Anke Stelling: Grundlagenforschung

Auch in der kleinen Form ist sie eine Bank: Anke Stelling beweist in ihrem Erzählband Grundlagenforschung, dass sie auch die kleine Prosaform beherrscht. Die Texte gehen durchweg an den Kern dessen, was die alternative Linke im Innersten zerreißt.

Wenn Anke Stelling eins fremd ist, dann ist das wohl das Pathos. Denn was sie hier im ersten Band der neuen Verbrecher-Reihe »kurze Form« auffährt, ist an trockener Bestandsaufnahme kaum zu überbieten. Grundlagenforschung eben, wie der Titel es nicht besser sagen könnte. Und doch ist diese Forschung so nah an ihren Subjekten – oder besser Protagonistinnen –, dass man sie sich nicht menschlicher vorstellen könnte. Trotz, oder vielleicht gerade wegen der teilweise schroffen Herangehensweise. Beschönigt wird hier nichts.

Da ist etwa Sonja, eine typische Figur in Stellings Erzählungen, hier »Was, wenn nicht das«. Sie hangelt sich von Bestandsaufnahme zu Bestandsaufnahme. Zählt auf, was kaputt ist. Was sie alles versucht hat, aber vergeblich war. Was ihr bleibt. Was sie nicht mehr will. Woran sie hängt. Und noch viel mehr. Und doch bleibt die einzige Konstante die beständig weiterlaufende Uhr, die den nahenden Morgen ankündigt, ohne dass Sonja vor lauter Listen ein Auge zugetan hätte. Schon wieder.

Wenn sie in ihrer Wohnung saß, vergaß sie schnell, dass es die Stadt gab. Gab es die Stadt, gab es einen Zusammenhang. Einen Zusammenhang zwischen Wohnung und Welt. Zwischen Sonjas dritter Kanne Fencheltee und dem Dönerverkäufer, der Bonbons an kleine Kinder verschenkte.

Grundlagenforschung sammelt Erzählungen über Frauen in den mittleren Jahren, wie Stelling sie auch in ihren Romanen (z.B. Bodentiefe Fenster und Schäfchen im Trockenen) in den Vordergrund stellt. Sie haben meist eine Herkunft aus alternativen Milieus gemein, die eher links, eher wohlhabend sind, und ihre Kinder mit hohen Idealen in die Welt entlassen haben. Der Wohlstand der Eltern liegt aber meist in kleinbürgerlichen Dörfern verwurzelt, weit entfernt von der Stadtwelt, in die sie die Suche nach mehr meist gezogen hat. Und in der sich viele Probleme noch deutlicher zeigen als in mehr oder weniger geschlossenen Dorfstrukturen mit familiärem Rückhalt und nachbarschaftlichem Beistand – auch wenn das ohne Frage seine eigenen Tücken hat.

Das Grundgefühl einer existenziellen Leere trägt viele der Frauen, die in ihrem Leben versucht haben, alles richtig zu machen, nach den Regeln zu spielen, es zu etwas zu bringen. Irgendwie wie die Eltern, nur anders. Nicht selten schauen sie nun zurück auf einen Scherbenhaufen, der sich trotz allem über die Jahre vor ihnen aufgetürmt hat. Gläserne Wände, vor Sorgen durchwachte Nächte, prekäre Arbeitsbedingungen, toxische oder einfach nur gleichgültige, beendete Beziehungen – sie sind voller Scham über Dinge, die nur selten in ihrer Verantwortung lagen, und doch fällt alles auf sie zurück.

Anke Stelling ist wohl ohne jeden Zweifel die literarische Stimme dieser Frauen. Ihre Texte schreien aus ihrem immer sehr zurückhaltenden, irgendwie sachlichen Stil von Scham und emotionaler Verwahrlosung, von Existenzen, die an einem System scheitern, das nicht für sie gemacht ist. Das ist entwaffnend, erschreckend und packend zugleich – und zum Glück auch nicht ohne Lichtblicke. Denn wo ständen wir heute ohne Emanzipationsbewegungen? Natürlich ist die Gesellschaft noch nicht am Ziel, einer Gleichberechtigung, wir sind nach wie vor meilenweit entfernt. Aber auch jeder Sieg im Kleinen ist ein Schritt in die richtige Richtung, und auch die sind in Grundlagenforschung dokumentiert.

Anke Stelling

Grundlagenforschung

Verbrecher Verlag

192 Seiten | 20 Euro

Erschienen im Oktober 2020

Kategorie Blog, Indiebooks, Rezensionen
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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