Rudi Nuss: Die Realität kommt

Eine glitchy Dystopie, die Queerness, Witz und Wärme mit überbordender Dunkelheit verbindet: Das Debüt Die Realität kommt von Rudi Nuss geht in die Vollen.

Rudi Nuss: Die Realität kommt

Fangen wir doch mal hermeneutisch an, gelernt ist gelernt. Der Titel Die Realität kommt von Rudi Nuss’ Debütroman bietet eine Reihe von Konnotationen und Implikationen sowie verschiedene Lesarten an. Zunächst das Offensichtliche: Was kommt, muss vorher gegangen oder nie da gewesen sein. Im Falle der Realität – einem im Übrigen extrem schwer zu definierenden Begriff, um den sich die Philosophie seit Jahrtausenden streitet – steuern wir also wohl in Matrix-Gewässer. Was ist Realität, was Traum/Simulation/Hyperrealität/Illusion? Außerdem hat das Verb »kommen« auch eine sexuelle Konnotation. Könnten wir es hier mit einer orgiastischen Dystopie zu tun haben?

Sagen wir es mal so: irgendwie ja, aber auch nein. Dystopie stimmt, absolut. Spiel mit Realitäten und Wahrnehmung auf ganzer Linie, Matrix ist hier mehr als nur eine Referenz. Denn auch hier sind Pillen ein großes Ding, wenn auch auf andere Weise als im Film. In Die Realität kommt dienen sie zum Eintritt in manche VRs, also virtuelle Realitäten, die damit hier organisch angelegt sind. Sie kommen über die Pille ins System der »Userx« – oder zeigt der Wirkstoff nur den Weg in eine Wahrnehmung, die immer schon in den Menschen angelegt war? Die wichtigste VR im Roman ist Avalon.

Seitdem Avalon nicht mehr gewartet wurde, ragten die Daten, Avatare, ganze Landschaften in die erste Realität. Keiner wusste so recht, wo Avalon begann und endete und wo überhaupt die Server standen, die all die Inseln berechneten. Ebenso wusste niemand, wo die erste Realität anfing und endete, das gehörte eben zum Universum, diese Unbegrenztheit.

Auf diesem Fundament erzählt Die Realität kommt von Conny, der Protagonistin, und ihren Freunden Wolfgang und Nikita, springt zwischen Zeiten und Orten und erweckt damit eine kaputte Welt zum Leben, die stark an das Computerspiel Fallout erinnert. Wird dort eine Welt nach dem Atomkrieg gezeichnet, ist hier nicht ganz klar, was die Welt in die Dunkelheit geführt hat. Es gab Rebellionen, es gab Krieg, wohl auch einen Klimakollaps – die Geschichte wird hier und da gestriffen, aber es gibt kein World Building wie in Miami Punk. Detailliert erfahren wir aber mehr über das karge Leben der Menschen, die noch leben.

Damit schafft es Die Realität kommt, das glitchy Spiel mit Realitäten und Virtualitäten, von dem etwa die Romane von Joshua Groß, Juan S. Guse, Berit Glanz, Jakob Nolte und Marius Goldhorn leben, von einem irgendwie verzerrten Heute in ein extrem verzerrtes Morgen zu verlegen. Dabei bleibt das Erzählen nicht auf der Strecke, auch wenn man jetzt auch nicht von einem komplett kohärenten Plot sprechen kann. Aber das braucht es auch nicht, denn die Fetzen, die wir an Connys Seite miterleben können, sind interessant genug und tragen den Roman.

Was Die Realität kommt dabei zuvorderst auszeichnet, ist sein in der düsteren Verzerrung schillerndes, queeres Figurenensemble. Der Roman schafft es sprachlich perfekt und ohne große Verrenkungen, Personen, Geschlechter und Sexualität weitgehend getrennt zu behandeln. Immer wieder habe ich mich selbst dabei erwischt, mir Gedanken über das Geschlecht von Figuren zu machen, das natürlich gar keine Rolle spielt – und meist war meine Vermutung auch falsch. Schön. Und auch ein wenig sexy, was das orgiastische Element in die Dystopie bringt.

Gerade in der tief verwurzelten Diversität liegt auch die große Wärme und Hoffnung, die in Die Realität kommt glimmt und die Dunkelheit nie die Überhand gewinnen lässt. Es ist einfach schön zu sehen, wie respektvoll die Figuren miteinander agieren und wie die Sprache des Romans dies leicht befördert. Eine Dystopie, die das Negative unserer Zeit verstärkt, aber ebenso positive Entwicklungen bei der Abschaffung von Heteronormativität und Patriarchat weiterdenkt. Eine Zeit nach dem Klimakollaps, nach Kriegen und Rebellionen, die das einzige bewahrt, was bleibt – die Menschlichkeit, auch wenn diese in virtuelle Realitäten abzudriften droht, die ein besseres Leben versprechen.

Rudi Nuss

Die Realität kommt

Diaphanes

248 Seiten | 22,50 Euro

Erschienen im März 2022

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Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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