Kurz angerissen, diesmal mit Abendbrot von Judith Hermann, Die Regierung der Natur von Leander Scholz und Stock und Kopf von Selim Özdogan.
Judith Hermann: Abendbrot
Mit ihrem neuen Roman Daheim ist Judith Hermann Anfang des Jahres durch die Feuilletons gegangen, nun kommt schon eine kleine neue Erzählung von ihr in Das Gramm. Abendbrot ist so unaufgeregt wie sein heimeliger Titel – der nebenbei auch perfekt zu Daheim passt – und führt in die Welt zweier Frauen.
Die Erzählung begleitet Mara und Aenne ein ganz kleines Stück in ihrem Leben. Doch das kleine Stück reicht, um einen exemplarischen wie tiefen Einblick in das Leben zweier mehr oder weniger alleinerziehender Mütter zu bekommen. Ihr Leben ist strukturiert von den Bedürfnissen der Kinder, die Abwesenheit der Männer macht jeden Raum für das Eigene knapp und knapper. Das Abendbrot ist ihr Ritual, in dem sie zusammenkommen und sich zusammen zu Hause fühlen, geborgen und nicht allein. Das ist weniger traurig, als es sich anhören mag, im Gegenteil ist es das Symbol einer Unterstützung, die gerade alleinerziehende Frauen sich gegenseitig in einer Welt geben müssen, die sie nur zu gern vergisst. [s]
Judith Hermann: Abendbrot | Das Gramm | 17 Seiten | im Abo
Leander Scholz: Die Regierung der Natur
Wie die Theorie-Kontrahenten Andreas Malm und Bruno Latour setzt sich auch Leander Scholz mit den Herausforderungen einer globalen Politik auseinander, die im besten Fall den drohenden Kollaps des Klimas und damit unserer Ökosysteme vor Augen hat und darauf reagieren muss. Dass diese Antwort nur eine globale sein kann, wenn sie denn funktionieren soll, stellt eine bisher einzigartige Herausforderung in der Geschichte der Politik dar, denn anders als etwa im Kalten Krieg gibt es hier keine Lager – wenn man mal großzügig von den Leugner*innen des Klimawandels absieht.
Scholz plädiert dabei ganz ähnlich wie Bruno Latour in Das terrestrische Manifest für die Einbeziehung der Erde bzw. des Planeten und von dessen Ökosystemen in jegliche Entscheidung – und zwar immer an erster Stelle, denn die Regierung der Natur ist tatsächlich bei aller gebotenen Eile zur Änderung der globalen Politik eine Leitlinie, der sich alle Staaten unterordnen müssen. In Die Regierung der Natur zeichnet Scholz die Geschichte der politischen Ökologie im Zusammenspiel mit der politischen Ökonomie, die den Planeten an den Rand des Kollapses gebracht hat. Das ist bisweilen etwas trocken, lohnt sich aber trotzdem. [s]
Leander Scholz: Die Regierung der Natur | August Verlag | 152 Seiten | 12 Euro
Selim Özdogan: Stock und Kopf
Bei der Frage nach dem Ursprung der Gewalt ist man schnell bei der Henne und dem Ei: Ein ewiger Kreislauf ohne Anfang, den zu durchbrechen ein unglaublich schwieriges Unterfangen ist. Das gilt für politische Konflikte wie zwischen Israel und Palästina im Großen genauso wie im Kleinen, etwa in Familien. Auch dort ist Gewalt oft ein Mittel, dass von Vätern eingebracht und ungewollt an die Kinder vererbt wird, die es dann wiederum an ihre Kinder weitergeben – und damit eine Geschichte der Gewalt schreiben, die auch kulturelle Ausmaße annehmen kann.
In Stock und Kopf schreibt Selim Özdogan eine solche kleine Geschichte der Gewalt. Sie handelt vom 40-jährigen Talib, der mit seinem Vater auf dem Balkon sitzt. Sie sehen den spielenden Kindern auf dem Hof zu und kommen im Gespräch auf das Thema Gewalt. Dabei zeigt sich, dass der Vater sich nicht mehr daran erinnern kann, Talib als Kind geschlagen zu haben, während es für diesen überaus lebhafte Erinnerungen sind, die in diesem Moment wieder hochkommen.
Stock und Kopf ist ein kleiner, ruhiger Text mit einem schmerzhaften Zentrum, das Menschen und Familien an den Rand des Zerbrechens bringt. Der Text reflektiert dieses Zerbrechen im Zögern Talibs, seinen Vater komplett mit der Vergangenheit zu konfrontieren, da er sieht, dass das Vergessen (müssen) ebenso stark sein kann wie der Schmerz. [s]
Selim Özdogan: Stock und Kopf | Das Gramm | 21 Seiten | im Abo