Steffen Greiner: Die Diktatur der Wahrheit

Auch wenn vom Corona-Virus kaum noch die Rede ist: Querdenken und Co werden bleiben, Themen lassen sich ja immer finden. Steffen Greiner schreibt in Die Diktatur der Wahrheit. Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern eine deutsche Geschichte der Schwurbelei.

Steffen Greiner: Die Diktatur der Wahrheit

Querdenker*innen. Sie sind einfach eine riesige Herausforderung. Es ist gar nicht so einfach zu verstehen, was Menschen dazu treibt, den gesunden Menschenverstand komplett auszuschalten, um sich den windigsten Quellen und kleinsten Krümeln Bestätigung für das eigene Weltbild komplett hinzugeben. Um an etwas zu glauben, was so unwahrscheinlich ist, dass es einer riesigen Konstruktion von Narrativen benötigt, um irgendwie haltbar zu sein. Und in dieser Suchbewegung nach Bestätigung am Ende mit rechtsextremen Strömungen zusammenkommt – wenn man nicht eh schon aus der Richtung kam.

Einen ersten Versuch zur Erklärung hat bereits Andreas Speit mit seinem Buch Verqueres Denken unternommen und die Querdenker*innen in direkte Nachfolge der ersten beiden Lebensreformbewegungen gestellt. Die Kontinuitäten sind da: Auch dort gab es, angefangen bei der Anthroposophie, militante Impfgegner*innen, hanebüchen esoterische Welterklärungen und Flirts mit rechtem Gedankengut. Die 68er warteten in ihrem esoterischen Arm dann auch noch mit Homöopathie und einem stärkeren Fokus auf den Frieden auf, der dabei immer wieder ein eigenartiges Gesicht bekommt. Letztere Strömung tritt auch gerade im Angriffskrieg gegen die Ukraine und der bedingungslosen Unterstützung Putins aus der Szene hervor – Themen lassen sich eben immer finden. Und Geld lässt sich damit auch immer verdienen, klar.

Steffen Greiner wählt in seinem neuen Buch Die Diktatur der Wahrheit. Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern auch eine historische Herangehensweise, geht dabei allerdings noch etwas weiter zurück als Speit und schaut dabei vor allem noch mehr auf Einzelpersonen. Der esoterische Protest als Lebensform findet sich bereits bei ihnen, und auch hier sind starke Parallelen zur heutigen Querdenken-Bewegung zu sehen. Dass diese ungefähr in den fünfzig Jahren vor dem Aufstieg der Nationalsozialisten ihre Hochzeit hatten, ist dabei nicht ganz zufällig. Denn natürlich waren auch sie Kinder ihrer Zeit, sie haben auf die Spitze getrieben, was in vielen Menschen arbeitete und schließlich in den Holocaust geführt hat.

So zeigt Greiner eine ganz eigene Spezies auf, die in den 1920er-Jahren aufkommt: die Inflationsheiligen. In einer Zeit, in der alles unklar scheint, in der der Exzess der Goldenen Zwanziger neben Hyperinflation, krasser Armut und frühkapitalistischer Ausbeutung stehen und die Moderne mit voller Wucht in Deutschland angekommen ist, gehen sie auf die Straße. Nicht direkt um zu protestieren, sondern vielmehr um zu predigen. Was sie hinterlassen haben, ist zugegebenermaßen wirr, kaum fundiert und meist von einem gewissen Egoismus grundiert. Und doch konnte ihr Charisma sie weit bringen, sie zu Gründungsmitgliedern von zahlreichen Kommunen und Projekten werden lassen, auch wenn sie als echte Einzelgänger*innen nie lange dabei bleiben.

Die Namen sind heute kaum mehr bekannt: Max Schulze-Sölde in Berlin, Friedrich Muck-Lamberty in Stuttgart, Louis Haeusser, Leonhard Stark und andere mehr. Greiner versucht ihre Geschichten im Lichte ihrer Zeit nachzuzeichnen und dabei immer ins Verhältnis zur Gegenwart zu setzen.

Eine Abneigung gegen die Polizei, die Beschimpfung von Menschen, die an das bestehende System glauben, die Schulpflicht als Hirnwäsche, der Staat als Gängelinstrument und die Impfung als Giftspritze, die angesichts der Selbstheilungskräfte des Menschen als völlig unnötig erachtet wird – natürlich muss hier gefragt werden: Ist der Grundsympath und Hesse-Influencer Gusto Gräser ein Querdenker?

Der Ton ist typisch für Greiners Schreibweise, immer locker-flockig, hier und da natürlich auch übers Ziel hinaus, aber passt. Das ist ein stilistischer Unterschied zu Speits Titel, der eher auf nüchterne Bestandsaufnahme setzt. Die Grundthese, die Greiner zur Einordnung der Querdenker*innen entwickelt, ist aber eine bedeutendere: Er sieht keine neue Lebensreform am Werk, sondern eine direkte Verbindung, also Kontinuität zur ersten, anthroposophischen. Vor allem im apokalyptischen Denken, gepaart mit latentem Antisemitismus und tief sitzender Selbstwahrnehmung als Opfer fast übermenschlicher Kräfte sieht er die Verbindungen – wobei Speit diese natürlich genauso benennt, den historischen Abstand nur anders wertet.

Das macht Die Diktatur der Wahrheit aber natürlich trotzdem zu einem überaus interessanten Beitrag zum allgemeinen Thema der Verschwörungsgläubigen. Mein Kritikpunkt an dem Buch teilt es sich mit vielen anderen historischen Spurensuchen. Denn sie tendieren für mich oft zu sehr dazu, sich an den mit Sicherheit hart und an abstrusesten Orten aufgespürten Quellen zu berauschen und sich so sehr ins Nacherzählen zu stürzen, dass die Analyse zu kurz kommt. Auch hier hätte ich gern noch etwas mehr Übertragung gehabt: Was sagen uns die Kontinuitäten, was können wir über die Querdenken-Bewegung hinaus daraus ziehen? Das ist hier auch drin, keine Frage, könnte für mich aber immer noch etwas eigenständiger ausgearbeitet werden.

Am Ende ist Die Diktatur der Wahrheit damit ein lesenswertes Buch, das abstruse Seitenarme deutscher Geschichte mit lockerem Ton spürbar macht und damit den Impulsen der Querdenken-Bewegung ein historisches Fundament gibt – das die meisten von ihnen wahrscheinlich nicht kannten.

Steffen Greiner

Die Diktatur der Wahrheit
Eine Zeitreise zu den ersten Querdenkern

Tropen

272 Seiten | 20 Euro

Erschienen im März 2022

Kategorie Blog, Rezensionen, Sachbuch

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

2 Kommentare

  1. Danke für die Rezension. Mir scheint – nur auf der Grundlage dieser Buchvorstellung – in diesem Band allzuviel zusammengerührt zu werden. Es ist angesichts der Kompelexität der Problemen im globalen Kapitalismus und strukturellen Gewaltkonstellationen ziemlich schwierig, Prozesse und politische Entscheidungen zweifelsfrei zu analysieren. Dazu braucht es intensiver Recherchen und viel Nachdenken. Ich glaube, dieses Buch wird keinen Platz in meinem Bücherschrank finden, da es einen Anspruch formuliert, der nur sehr schwer einzulösen ist. Leider neigt auch der linke Mainstream dazu, Instant-Weltbilder zu entwickeln und jede Kritik und Infragestellung als „Verschwörungstheorie“ zu brandmarken. im Übrigen stört mich natürlich, dass „Querdenken“ von rechten Verschwörungstheoretikern als Begriff für etwas sehr Ungutes okkupiert wurde und diese sematische Übernahme auch noch vom Autor ohne Problematisierung übernommen wurde. „Quer-“ und „Freidenken“ war immer etwas Befreiendes und Emanzipatorisches. Die Alternative zu den neuen „Querdenkern“ kann doch wohl kaum die völlige Kritiklosigkeit und die Übernahme von Instant-Weltbildern sein. Wir brauchen das Quer- und Gegendenken … aber natürlich nicht das, was Pegida und Reichsbürger u.a. darunter verstehen. Der Band erscheint mir oberflächlich und etwas „sensationslüsternd“. Wie gesagt: Nur ausgehend von der Beschreibung!

    • Danke für deinen Kommentar! Das Buch ist in erster Linie eine historische Spurensuche und damit eine versuchte Verortung der Querdenken-Bewegung. Da es aber wissenschaftlich nur viel zu wenige wenige belastbare Daten gibt (da gibt es einen guten Überblick bei Speit), ist mehr momentan ja kaum drin. Der Text ist auch differenzierter, als ich das in einer kurzen Besprechung darstellen kann, würde ich sagen. Pauschale Verurteilung von kritischem Denken gibt es da nicht, das kann ich aber sagen. Nur von Denken, das sich dem „Mainstream“ aus Prinzip entzieht und dabei Vernunft und oft eben auch zu verteidigende Werte auf der Strecke bleiben – und damit schnell in Querfront-Grauzonen, oft auch im klar rechten Bereich landen.

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