Lars Distelhorst: Kulturelle Aneignung

Das Stichwort poppt immer mal wieder auf, die tiefe Auseinandersetzung fehlt aber an den meisten Stellen. Lars Distelhorst will das mit Kulturelle Aneignung endlich ändern und macht einen überzeugenden ersten Schritt.

Lars Distelhorst: Kulturelle Aneignung

Zuletzt war es wieder so weit. Bei einer Fridays for Future-Veranstaltung wurde eine Künstlerin ausgeladen, weil sie weiß ist und Dreadlocks trägt. Ohne Frage war die Ausladung nicht ganz elegant, die Künstlerin reagierte aber zum Glück reflektiert. Nicht so die breite Öffentlichkeit. Hier hieß es aus allen möglichen Richtungen, das »Woko Haram« wieder am Werk sei, also die überreflektierten politisch korrekten Menschen, die jeden Bezug zur Realität verloren hätten und andere missionieren wollten – also ihnen vorschreiben, wie sie zu leben hätten.

Eine vollkommen überzogene, höchst emotionale Reaktion also, zur überwiegenden Mehrheit von weißen Männern geäußert. Genau an diesem Punkt, der Kränkung des verinnerlichten weißen Privilegs, setzt Lars Distelhorst in seinem Buch Kulturelle Aneignung an. Denn Sprechen über kulturelle Aneignung bedeutet in den meisten Fällen auch Sprechen über eigene Fehler oder – weniger harsch ausgedrückt – über eigene meist unreflektierte, aber dadurch für Betroffene nicht weniger verletzende Handlungen.

Das Reflektieren der eigenen weißen Privilegien stößt dabei an den Kern der Identität, was dies zu einem emotionalen Vorgang wie wenige andere macht. Sich einzugestehen, bestimmte Dinge nicht allein aus der eigenen Leistungsfähigkeit heraus geschafft zu haben, sondern strukturell bevorteilt zu sein (nicht unbedingt nur durch das Weißsein), ist nicht leicht. Und dabei unbewusst auch noch reihenweise andere verletzt zu haben, macht es auch nicht leichter.

So startet Lars Distelhorst sehr niedrigschwellig in seine Flugschrift zur kulturellen Aneignung. Dies ist eine absolute Wohltat, denn das Thema ist ungemein komplex. Man ahnt es zuvor schon, und der Autor lässt keinen Zweifel daran, dass es hier einfach keinen einfachen Weg der Betrachtung gibt. Denn wenn er nach der Beschreibung seines eigenen Wegs zu einem kritischen Weißsein zur Analyse übergeht, braucht es wiederum lange, bis er zu einer eigenen Definition gelangt.

Bis dahin wird Lage um Lage von Problemen der kulturellen Aneignung auf der einen und ihren verschiedenen Dimensionen auf der anderen Seite geklärt. Problematisch sind in erster Linie die Gefahr des Essentialismus, der dem Vorwurf der kulturellen Aneignung schnell anhaftet, sowie des Transkulturalismus. Will heißen, es geht erstens um Grenzen von Kulturen, das Aufteilen von Menschen in Kategorien, die am Ende rassistische Denkweisen zu reproduzieren drohen. Das ist so ziemlich die häufigste Kritik am Konzept der kulturellen Aneignung, denn – zweitens – Kultur sei schon immer übertragen worden, auf der Erde gewandert. Wie könne man da einzelnen vorwerfen, dies auch zu tun und damit Geld zu verdienen?

Um den Vorwürfen zu begegnen, gilt es, eine möglichst klare Definition zu entwickeln. Doch eine einfache Definition muss zwingend scheitern, da das Feld einfach zu weit und komplex ist. Distelhorst plädiert dafür, nicht pauschal zu urteilen und die Einzelfälle differenziert zu betrachten, und dabei vor allem immer ihre politische Dimension in den Vordergrund zu rücken. Das bedeutet, die Machtstrukturen hinter einer möglichen Aneignung zu analysieren. Das mündet dann in folgender Definition:

Kulturelle Aneignung interveniert in Auseinandersetzungen um Hegemonie, indem Mitglieder einer Dominanzkultur sich die Symbole um Emanzipation kämpfender diskriminierter Gruppen zu eigen machen, um diese zu eigenen Zwecken zu recodieren oder in Konsumartikel zu verwandeln, wodurch sie in ihrer Bedeutung verschoben und für die Repräsentation unbrauchbar gemacht werden.

So werden Symbole des Andersseins zu austauschbarer Mode (Dreadlocks, volkstümelnde Modekollektionen, indigene Tattoos), zu schönen »exotischen« Objekten (Beutekunst), »exotischen« Klängen (Popmusik mit Ethno-Elementen), neuen Sport- oder Entspannungsarten (Yoga, Meditation) und -accessoires (Rauchhölzer, Gongs etc.). Um nur ein paar Fälle zu nennen, die Distelhorst beispielhaft durchgeht. Entscheidend ist, dass auch in diesen Fällen keine pauschalen Urteile zu fällen sind, sondern jeder Fall für sich komplex ist.

Das ist auch das Fazit des Buchs: Es ist und bleibt komplex, und die Diskussion des Phänomens kulturelle Aneignung steht erst am Anfang. Gerade diese Offenheit in Hinsicht auf das eigene Thema macht das Buch für mich rund und stimmig. Es hat mir vor Augen geführt, wie kompliziert das Thema ist, welche Facetten es hat und wie eng diese miteinander verbunden sind. Eine absolute Empfehlung.

Lars Distelhorst

Kulturelle Aneignung

Edition Nautilus

248 Seiten | 18 Euro

Erschienen im September 2021

Kategorie Blog, Indiebooks, Rezensionen, Sachbuch
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

2 Kommentare

  1. Vielen Dank, Stefan, für die Besprechung und Empfehlung. Auf die Edition Nautilus bin ich selbst ursprünglich über die Veröffentlichungen von Laurie Penny gestoßen und habe sie seither immer häufiger, auch in Buchblogs, entdeckt. Das Thema “Kulturelle Aneignung” – wie auch andere – bedürfen unbedingt des Diskurses, ohne allzu heftig in die Kerbe der Verurteilung zu schlagen. Ich hoffe und glaube, dies kann hier gelingen und freue mich auf die Lektüre.

    • Danke für deinen Kommentar, Konstantin! Du hast alles gesagt. Das Thema muss diskutiert werden, auch kontrovers, aber eben auch fundiert. Das Buch ist ein sehr guter Schritt dahin. Also viel Spaß!

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