Aktion und Reaktion, Außen und Innen: Heinz Helle macht das Oszillieren des eigenen Lebens zwischen verschiedenen Polen in seinem neuen Roman Wellen greifbar.
Eigentlich wollte ich ja keinen Corona-Roman lesen. Zu nah und zu omnipräsent ist das Thema in meiner und unser aller Realität, als dass ich auch noch Fiktion dazu lesen wollte. Aber was man will, und was dann so passiert, muss ja nicht zwingend verbunden sein. Auch wenn das – zugegebenermaßen nicht immer – so schön wäre!
Aber dann lag Wellen von Heinz Helle in der Post. Wie gehabt lese ich keine Vorschau oder Werbetexte, also ging es gleich rein, und dann – oh no! Corona überall! Was tun? Aber zum Glück ist Heinz Helle hier nicht auf die schnelle Pandemie-Nummer aus, sondern diese ist nur ein Auslöser für ein Erzählen, das sich irgendwie autofiktional ansiedelt, aber zum Glück nicht anfühlt. Und dass in seiner schonungslosen und oft mindestens ebenso witzigen Offenheit deutlich tiefer geht.
Denn Wellen ist eine Art Chronologie, ein Tagebuch, wenn man so will, dem allerdings die Daten fehlen. Aber es ist ein kontinuierliches Niederschreiben dessen, was der Protagonist erlebt. Dieser ist dem Autor zum Verwechseln ähnlich – wäre da also nicht das kleine Wörtchen »Roman« auf dem Cover, könnte man hier gleich an ein neues Notizbuch von Peter Handke denken (an deren Erzählweise Wellen tatsächlich erinnert). Aber das Ich in Wellen reflektiert das eigene Schreiben immer wieder, sodass hier mit der Zeit klar wird, dass es zwar um ein höchst persönliches Schreiben geht, dieses aber im Nachhinein fiktionalisiert wurde. Wie genau, wissen wir natürlich nicht, aber das ist auch vollkommen egal.
Und ehe du mir alles erklärtest, gerade, fragtest du: Schreibst du jetzt auf, wie blöd ich bin?, und obwohl ich natürlich genau das tat, leugnete ich es und redete vom ganz grundsätzlichen Versuch, mithilfe der regelmäßigen schriftlichen Dokumentation meines Erlebens zu verstehen, was hier eigentlich so passiert.
Wir begleiten den Protagonisten Heinz durch seinen Alltag, sind ganz nah dran an seinen Gedanken. Wir leben mit ihm, seiner Partnerin und den beiden Kindern in der etwas zu kleinen, aber doch ausreichenden Wohnung in Zürich. Gehen mit ihm in den Arbeitsraum, um zu schreiben (ja, an dem Buch, das wir lesen). Wir hadern mit ihm über die Masken, beobachten ihn, wie er sich selbst dabei beobachtet, zu stark auf das Weinen des Babys zu reagieren. Und wie er über sich selbst erschreckt.
Es ist dieses Moment der doppelten Reflexion, die sich für den Protagonisten aus der Verarbeitung des zeitnah erlebten im Aufschreiben ergibt, das den ganz eigenen Drive von Wellen ausmacht. Auf und ab geht es in den Reflexionen. Wir schippern mit Heinz durch seinen Alltag, durch gute und durch schlechte Tage, lachen mit ihm über Absurditäten und irre Gedanken, stehen ihm aber auch bei, wenn er in tiefe Zweifel über die eigene Identität gerät. Diese steht im Schreibakt aber nie in Frage, also es gibt kein ausgelutschtes autofiktionales Spiel – das erleichtert den Roman ungemein.
Wellen ist ein ungemein ehrliches Zeugnis einer schweren Zeit. Es ist radikal subjektiv, zeigt einen Mann in seinen frühen Vierzigern mit zwei Kindern und allen Gedanken, Zweifeln, Freuden und Leiden, die das mit sich bringt. Dass Corona dabei einen Rahmen gibt, ist einerseits Zufall, andererseits aber auch wieder nicht: Denn gerade die Krise hat hier die Beschäftigung mit dem eigenen Ich notwendig gemacht. Ein Roman, der viel riskiert, aber gewinnt. Der trotz aller Subjektivität nicht in sich versinkt, sondern anschlussfähig bleibt und einen Sog entwickelt, den ich nach den ersten Seiten so nicht erwartet hätte.
Heinz Helle: Wellen | Suhrkamp | 284 Seiten | 23 Euro | erschienen im September 2022