[wortmeldungen 2022] Förderpreis-Shortlist: Juli Mahid Carly, Nicole Collignon, Muri Darida

Es ist wieder Shortlist-Zeit – die Shortlist des WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Förderpreis für kritische Kurztexte steht fest, und wir stellen euch heute die ersten drei Nominierten und ihre Texte vor: Juli Mahid Carly, Nicole Collignon und Muri Darida.

Wortmeldungen Förderpreis

Beim WORTMELDUNGEN Förderpreis werden wieder neue Stimmen zu relevanten gesellschaftlichen Themen gesucht. Zehn Autor*innen sind mit ihren Texten zu den Themen, Flucht, Exil und Heimat für die Shortlist nominiert. In drei Beiträgen stellen wir sie euch vor, bevor im November dann die drei Preisträger*innen gekürt werden. Wie immer könnt ihr alle Texte auf der WORTMELDUNGEN-Homepage nachlesen – wir verlinken sie aber auch einzeln bei jedem Text.


Juli Mahid Carly: Tere Mere Beech Mein, keine Ahnung was das heißt

Bangladesch erscheint weit weg, doch irgendwie ist das Land in einer globalisierten Welt doch nur einen Griff in den Kleiderschrank entfernt. Juli Mahid Carly schreibt in Tere Mere Beech Mein, keine Ahnung was das heißt aus der Perspektive eines nach Deutschland gekommenen Menschen über die Heimat der Eltern und Verwandten. Und dabei auch über eine transkontinentale Beziehung, die von unzähligen Schichten der Ausbeutung überlagert wird. Wir haben Juli Mahid Carly ein paar Fragen zum Text gestellt:

Juli Mahid Carly
Juli Mahid Carly © Niklas Vogt

Warum hat dich das von Volha Hapeyeva ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2022 animiert, einen eigenen Text zu schreiben?

Ich hab den guten deutschen Pass, viele Kartoffeln als Kind gegessen und fühl mich gar nicht so unverbunden mit Schiller, Nena und sonstiger Leitkultur. Von meiner nordhessischen Oma wollte ich unbedingt einen Schrank aus Kastanienholz erben. Ich war ihr sehr nah, aber nach ihrem Tod hieß es, er müsse im deutschen Teil der Familie bleiben. Ich schäm mich sehr dafür, mich fremd zu fühlen wegen einem alten Schrank, den ich nicht hab. Aber wahr ist es trotzdem, dass ich die Migration meiner Eltern, die ewige Kolonisierung nicht-weißer Körper ganz deutlich diffus spüre, wenn ich nicht erbe, wenn ich vom Ladendetektiv verfolgt werde, wenn ich mir die Schilder in den T-Shirts anschaue.

Schick uns ein Foto/gemaltes Bild/Meme/YouTube-Video, das für deinen Text stehen könnte und schreib ein paar Sätze dazu.

Der Pop-Song Toxic samplet diesen Bollywood Classic. Im Film geht es um die Liebe eines Südinders und einer Nordinderin, die einander sprachlich kaum verstehen und deren Eltern diese Beziehung nicht billigen. Es passiert dann echt viel romantisches und schlimmes Zeug. Am Ende bringen die beiden sich um. Die Schauspielerin im Film singt den Song nicht selbst, sondern Indiens Nationalnachtigall Lata Mangeshkar, die für über 50 Prozent aller uns bekannten Bollywoodsongs im Tonstudio war. 2021 starb sie, Menschen stiegen aus ihren Autos, Banken stoppten die Geschäfte und ich hab das alles nur zufällig auf Wikipedia gelesen, als ich Britney Spears gegooglet hab.

Wenn du jemandem deinen Text in zwei Sätzen erklären müsstest, wie würden sie lauten?

Ein*e unzuverlässige*r auktoriale*r Erzähler*in reist per Mangowurzelmycelnetzwerk in die Mangroven. Es ist schön dort, aber auch ein bisschen stereotyp, beinahe kommt es zur lang ersehnten Hochzeit, aber am Ende ist es doch bei Mama zu Hause ganz schön.

Vielen Dank für deine Antworten.

Juli Mahid Carly (*1997 in Baunatal) studierte Germanistik und Geschichte in Göttingen und Theaterregie in Ludwigsburg und promoviert zurzeit an der Kunsthochschule Kassel. Neben Theatertexten erarbeitet Juli autofiktionale Performances, Dokumentarfilme und partizipative Musiktheater-Projekte.


Nicole Collignon: »Corrige moi, si je me trompe …«

»Corrige moi, si je me trompe …« von Nicole Collignon beginnt mit einem Spiel, das die Erzählerin mit den Erwartungen der Leser*innen spielt. Es geht um Erwartungen, um Vorstellungen, Vorurteile. Im Weiteren erforscht sie ihre Familiengeschichte, und zwar als Angehörige der zweiten Generation, deren Mutter aus dem Libanon nach Deutschland gekommen ist. Eindringlich ist dabei vor allem die Schilderung einer Gefühlslage der Erzählstimme, die das Leid der Eltern kaum begreifen kann und ein Haltung dazu sucht. Wir haben Nicole Collignon ein paar Fragen zum Text gestellt:

Nicole Collignon
Nicole Collignon

Warum hat dich das von Volha Hapeyeva ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2022 animiert, einen eigenen Text zu schreiben?

Schon sehr lange überlegte ich, und überlege ich immer noch, wie ich über die Geschichte meiner Mutter und meine schreiben kann. Diesen Teil zu berühren, den ich nicht als Wurzel definieren darf, wenn denn als ausgerissene, habe ich mich lange nicht getraut – das Land und eine Zeit, die ich nie betreten und die Erlebnisse zu beschreiben, die ich nie erlebt habe, ohne anmaßend zu sein oder zu lügen. Doch diese Vergangenheit, ohne die meine Familie nicht die wäre, die sie jetzt ist, ist auch Teil meiner Geschichte. In meiner Familie ist eine große Scham um die Vergangenheit. In einem Gespräch mit meiner Schwester wurde mir klar, dass ich nichts verstecken will, dass ein Teil der Weitergabe transgenerationalen Traumas darin liegt, zu schweigen. Als ich den Ausruf sah, beschloss ich, den Text, an dem ich bis dahin schon über ein halbes Jahr gearbeitet hatte, einzureichen. 

Schick uns ein Foto/gemaltes Bild/Meme/YouTube-Video, das für deinen Text stehen könnte und schreib ein paar Sätze dazu.

In welchem Kontext sehen wir Dinge und was ist unsere ((erwartete)) Gemeinsamkeit?

Wenn du jemandem deinen Text in zwei Sätzen erklären müsstest, wie würden sie lauten?

((Ich lege meinen Finger in die Wunde, in die Unübersetzbarkeit. Ich sage: Die Bilder übertragen sich nicht. Ich folge meiner Mutter mit dem Finger auf der Karte. Das Meer ist die Wunde.)) Thema ist die Distanz und gleichzeitige Nähe zu vererbten Geschichten, doch vielmehr auch: Das Sprechen – als Chance, und als Unmöglichkeit.

Vielen Dank für deine Antworten.

Nicole Collignon (*1999 in Landshut) studierte Kreatives Schreiben und Kulturjournalismus in Hildesheim sowie nun Sprachkunst in Wien, wo sie derzeit lebt. Sie ist Teil der Lesebühne SEHR ERNSTE sowie der Redaktion der JENNY 2022 und arbeitet gerade an einem längeren fiktionalen Text.


Muri Darida: Der Landkartenarm

In Der Landkartenarm von Muri Darida kreuzen sich transnationale und transsexuelle Identität. Wie Grenzen auf Landkarten im Rückblick verschwimmen, zu Schemen werden, die sich beliebig bewegen, so verschwimmen auch die Grenzen zwischen den Geschlechtern – doch die Narben der Körper sind trotz aller Kontingenz der Grenzen real. Ein eindringlicher Text über Traumata der Flucht, familiäres Schweigen und die Suche nach der eigenen Identität. Wir haben Muri Darida ein paar Fragen zum Text gestellt:

Muri Darida
Muri Darida © Adam Carey

Warum hat dich das von Volha Hapeyeva ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2022 animiert, einen eigenen Text zu schreiben?

Beim Lesen von Volha Hapayevas Ausruf blieb das Bild »Autos auf Parkplätzen« vor meinen Augen stehen. Die Frage »Aber ich bin diejenige, die kein Zuhause hat?« hat mich berührt in ihrer herausfordernden Verletzbarkeit und unaufgeregten Wahrhaftigkeit. Ich wollte schreibend prüfen, wie sich Heimatlosigkeit erzählen lässt, wenn es offiziell so etwas wie ein Zuhause gibt. Wie sich Ahnung und bewusstes Nichtwissen artikulieren und wie sie im Text gegen Schweigen und normierte Erzählungen aufbegehren. Außerdem hat mich der menschliche Körper als Grundlage der Geschichte fasziniert. Körper, die Wohnung, Vehikel, Sarg, Landkarte, Herkunfts-, Flucht- oder Sehnsuchtsort sein können. 

Schick uns ein Foto/gemaltes Bild/Meme/YouTube-Video, das für deinen Text stehen könnte und schreib ein paar Sätze dazu.

Landkarten samt ihrer Grenzen sind Zeugnisse staatlicher Gewalt und kolonialer Unterdrückung. Gleichzeitig sind sie ein Hilfsmittel zur Flucht. Im Gegensatz zu Google Maps lassen sie sich zerfetzen, zerschneiden und übermalen, sie verlieren ihre Gültigkeit mit dem Wechsel von Systemen und Regimen. Mich beeindruckt die Selbstverständlichkeit, die Landkarten früher hatten und wie sie fast unbemerkt aus den Autos und Geschäften verschwunden sind. Damit ähneln sie Fakten und Geschichten aus der Vergangenheit. Ihre Flüsse und Autobahnen sehen aus wie ein Netz aus Venen und Schnitten. Für die Heimatlosen oder -suchenden meiner Kurzgeschichte bleiben die Karten voller Risse und Narben und beheimaten dabei Sehnsucht und Widerständigkeit. 

Wenn du jemandem deinen Text in zwei Sätzen erklären müsstest, wie würden sie lauten?

Die Erzählung stochert mit Nadeln und Klingen in ein Netz aus Narben, Schweigen und Lügen und versucht auf diese Weise, lose Enden verschwiegener Geschichten von Gewalt, Scham, Hoffnung und Zugehörigkeit zu vernähen. Aus der brutalen Abwesenheit von Worten und Wahrheit platzen blutige und zutiefst sehnende Bilder, die die Geschichten der Figuren und ihre Beziehung zueinander andeuten. 

Vielen Dank für deine Antworten.

Muri Darida (*1993 in Bayern) ist Autor:in, Journalist:in und Übersetzer:in und lebt in Berlin. Journalistische Publikationen u.a. für ZEIT ONLINE, ze.tt, jetzt.de, ARD Kontraste; Literarisches für GYM, Parabolis Virtualis, transcodiert und Schreiben gegen die Norm(en).


WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Der mit 15.000 Euro dotierte gleichnamige Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.


Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.

Kategorie Wortmeldungen-Förderpreis
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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