Und noch einmal zur Shortlist des WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Förderpreis für kritische Kurztexte. Wir stellen euch heute die verbleibenden vier Finalist*innen und ihre Texte vor: Sophia Merwald, Irina Nekrasov, Sophia Strasser und Jonë Zhitia.
Beim WORTMELDUNGEN Förderpreis werden wieder neue Stimmen zu relevanten gesellschaftlichen Themen gesucht. Zehn Autor*innen sind mit ihren Texten zu den Themen, Flucht, Exil und Heimat für die Shortlist nominiert. In drei Beiträgen stellen wir sie euch vor, bevor im November dann die drei Preisträger*innen gekürt werden. Wie immer könnt ihr alle Texte auf der WORTMELDUNGEN-Homepage nachlesen – wir verlinken sie aber auch einzeln bei jedem Text.
Sophia Merwald: Deckung suchen (einen Vater)
Dass Heimatlosigkeit nichts mit Ländern zu tun hat, demonstriert Deckung suchen (einen Vater) von Sophia Merwald. Der Text führt in die Gedankenwelt einer jungen Frau, die von ihrer alleinerziehenden Mutter abgehauen ist und nun bei wechselnden Partnern unterkommt und ihren Unterhalt mit Prostitution verdient. Dabei steigt sie genau zu den Männern ins Auto, die sie in ihrem Leben nie hatte: zu Vätern. Ein aufwühlender und tief emotionaler Text, der Hoffnungs- und Heimatlosigkeit gleich nebenan beschreibt.
Wir haben Sophia Merwald ein paar Fragen zum Text gestellt:
Warum hat dich das von Volha Hapeyeva ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2022 animiert, einen eigenen Text zu schreiben?
Das Thema Heimatlosigkeit beschäftigt mich schon seit einigen Jahren in meiner literarischen Arbeit.
Mich hat in Volha Hapeyevas Aufruf besonders die Verknüpfung von Heimatlosigkeit mit dem konkreten Bild der Verlorenheit von »Autos auf Parkplätzen« beeindruckt. Ich dachte sofort an den romantischen wie gruseligen Zufall und die Abgelegenheit von Raststätten als eine Art Nicht-Ort. Was diesen Nicht-Ort ausmachen könnte und was gerade dort stattfinden könnte, wofür es woanders vielleicht keine Sprache gibt, damit wollte ich mich beschäftigen.
Schick uns ein Foto/gemaltes Bild/Meme/YouTube-Video, das für deinen Text stehen könnte und schreib ein paar Sätze dazu.
Es geht in meinem Text unter anderem um Prostitution, dazu finde ich die Position von Huschke Mau, Aktivistin sowie Ex-Prostituierte, sehr wichtig. Sie plädiert für eine Übernahme des Nordischen Modells hierzulande. Die Verschleierung von Prostitution hinter dem Begriff der Sexarbeit sieht sie selbst auch kritisch. Es ist ein Euphemismus, der nur auf eine privilegierte Minderheit zutrifft und zudem suggeriert, es handele sich um eine gewöhnliche Form der Arbeit. Die meisten Prostituierten aber sind aus Gründen wie Traumata oder Armut dazu gezwungen. Mein Text will sichtbar machen, wie sich Prostitution und strukturelle gesellschaftliche Probleme bedingen.
Wenn du jemandem deinen Text in zwei Sätzen erklären müsstest, wie würden sie lauten?
Im Text, das schreibe ich selber, geht es um eine Vielzahl an Losigkeiten: Heimatlosigkeit, Vaterlosigkeit, Haltlosigkeit. Und doch spielen die fehlenden und anwesenden Männer eine große Rolle im gegenwärtigen Leben der Protagonist:innen.
Vielen Dank für deine Antworten.
Sophia Merwald (*1998 in Weiden) studierte Journalistik sowie Film- und Medienkultur-Forschung in München, Eichstätt und Lillehammer. Sie arbeitete als freie Journalistin, veröffentlichte in Literaturzeitschriften und war u.a. nominiert für den Klopstockpreis für junge Lyrik. Momentan arbeitet sie an ihrem ersten Roman.
Irina Nekrasov: Marijam
Marijam von Irina Nekrasov gräbt sich tief in die Geschichte des russisch-sowjetischen Imperialismus. Anhand der Familiengeschichte der Erzählerin führt der Text immer weiter in die Vergangenheit, bis hin zu den Tataren, denen Marijam, die lange verschwiegene Urgroßmutter, angehörte. Stück für Stück werden die Schichten abgetragen, hin zur arabisch geprägten Minderheit, die im russisch geprägten Sowjetreich keinen Platz hatte. Ein Text, der mit seiner Bewegung in die Vergangenheit auch einen Fingerzeig in die Gegenwart gibt.
Wir haben Irina Nekrasov ein paar Fragen zum Text gestellt:
Warum hat dich das von Volha Hapeyeva ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2022 animiert, einen eigenen Text zu schreiben
Bei mir war es andersrum. Der Text war schon da, in 37 verschiedenen Entwürfen. Das erwähne ich im Essay sogar explizit. Die Auseinandersetzung mit den staatlichen Repressionen innerhalb der Sowjetunion begleitet mich literarisch schon lange.
Schick uns ein Foto/gemaltes Bild/Meme/YouTube-Video, das für deinen Text stehen könnte und schreib ein paar Sätze dazu.
The Manhoff Archives
Wenn du jemandem deinen Text in zwei Sätzen erklären müsstest, wie würden sie lauten?
In der Sowjetunion gab es Leitkultur.
Vielen Dank für deine Antworten.
Irina Nekrasov (*1993 in Tscheljabinsk) studiert Kulturwissenschaften und am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Sie ist Teil des Autor_innenkollektivs PMS Postmigrantische Störung. Veröffentlichungen u.a. in der Anthologie Solidarisch gegen Klassismus.
Sophia Strasser: Dreißig Jahre
Über das Leben an einem Nicht-Ort berichtet Dreißig Jahre von Sophia Strasser. Der Titel beziffert die Dauer, die der Protagonist bereits ausharrt. Er lebt in einem Lager, als Geflüchteter. Ohne Perspektive, weder vor – Europa war einst das Ziel – noch zurück in die alte Heimat. Dort wäre zumindest noch seine Familie. Doch sein Leben scheint vorbei an diesem Ort, an dem die Zeit stillsteht. Ein Ort, der keine Heimat ist, keine sein kann, und doch existiert und zu einem jahrelangen Exil wird, das neben Stillstand aber auch noch etwas anderes kennt: den Tod.
Wir haben Sophia Strasser ein paar Fragen zum Text gestellt:
Warum hat dich das von Volha Hapeyeva ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2022 animiert, einen eigenen Text zu schreiben?
Durch die Arbeit meines Bruders im Flüchtlingskontext in Ostafrika bin ich immer wieder konfrontiert mit dem Thema Flucht. Seine Erzählungen über die Verhältnisse in den Flüchtlingsaufnahmeregionen beschäftigen mich intensiv. Die Hoffnungslosigkeit der Menschen im Lager und die Tatsache, dass diese Schicksale eigentlich niemanden zu interessieren scheinen, machen mich nach wie vor sprachlos. Volha Hapeyevas Aufruf regte mich dazu an, meine Gedanken in einem Text auszuarbeiten. Ich versuchte, mir dieses Dasein vorzustellen. Mein Ziel war es, das Schicksal eines Bewohners darzustellen, um auszusprechen, was sonst niemals Gehör findet.
Schick uns ein Foto/gemaltes Bild/Meme/YouTube-Video, das für deinen Text stehen könnte und schreib ein paar Sätze dazu.
Zelte, nichts als Zelte, Hütten und Baracken, so weit das Auge reicht. Ansonsten keine Perspektive. Müllhalde oder Zeltlager? Es scheint das Gleiche zu sein.
Wenn du jemandem deinen Text in zwei Sätzen erklären müsstest, wie würden sie lauten?
Es geht um einen Geflüchteten, der dreißig Jahre seines Lebens im Flüchtlingslager verbracht hat. Der Text ist eine Momentaufnahme aus seinem Leben, das von jahrzehntelanger Perspektivlosigkeit geprägt ist.
Vielen Dank für deine Antworten.
Sophia Strasser (*2001 in Niederbergkirchen) absolvierte zunächst eine Ausbildung zur Ensembleleitung mit Schwerpunkt Viola an der Berufsfachschule für Musik in Altötting und studiert nun Allgemeine und Vergleichende Literaturwissenschaft in München, wo sie auch lebt.
Jonë Zhitia: Nadryw | Sprache fühlen
Der Text Nadryw | Sprache fühlen von Jonë Zhitia taucht ein in die Gefühlswelt einer Tochter von Geflüchteten des Kosovokriegs. Als Angehörige der zweiten Generation ist sie nirgendwo zu Hause, ist gefangen im Dazwischen von Herkunft der Eltern, Albanien, und dem Land der Gegenwart, Deutschland. Und damit auch in einem ständigen Missverhältnis zu den Ansprüchen beider Länder. Nicht anders ist es mit den Sprachen, zwischen denen sie stetig übersetzt, ohne eine der beiden als Heimat empfinden zu können. Hier fühlt sie Nadryw, ein unübersetzbares russisches Wort aus Dostojewskis Werken, das eine emotionale Notlage beschreibt und den stark intertextuell gearbeiteten Essay durchweht.
Wir haben Jonë Zhitia ein paar Fragen zum Text gestellt:
Warum hat dich das von Volha Hapeyeva ausgerufene Thema zum Wortmeldungen Förderpreis 2022 animiert, einen eigenen Text zu schreiben?
Mein Essay entstand bereits vor der Ausschreibung. In einem Seminar, fast ein ganzes Jahr früher, erzählte uns Marion Brasch von dem Wort nadryw. Ich hatte es nie zuvor gehört und es war, als würde es endlich ein Wort geben, einen Namen, für ein Gefühl, das ich nie aussprechen konnte, oder vielleicht durfte. nadryw kennt die Deutsche Sprache nicht. Seine Übersetzung ist unmöglich. Ähnlich wie vieles, das Geflüchtete und ihre Kinder in diesem Land fühlen und erleben: unübersetzbar. Der Essay entstand aus der Notwendigkeit heraus, in Worte zu fassen, wogegen sich der deutsche Volksmund versucht zu versperren. Als ich die Ausschreibung las, war ich gerade fertig mit der letzten Überarbeitung. kismet hätte meine Großmutter gesagt.
Schick uns ein Foto/gemaltes Bild/Meme/YouTube-Video, das für deinen Text stehen könnte und schreib ein paar Sätze dazu.
Gerade zeichnet, oder versucht es zumindest, eine Bekannte ein Bild, das zu Nadryw passen soll, ich selbst habe keines, finde keines.
Wenn du jemandem deinen Text in zwei Sätzen erklären müsstest, wie würden sie lauten?
»an outcry of the soul«
Vielen Dank für deine Antworten.
Jonë Zhitia (*1996 in München) studiert Soziologie und Literarisches Schreiben an der Universität Leipzig. Sie ist Mitbegründerin des nachhaltigen und feministischen Onlinemagazins EKOLOGISKA MAG und veröffentlichte unter anderem in den Magazinen tuerspion und JENNY.
WORTMELDUNGEN – Der Literaturpreis für kritische Kurztexte wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Der mit 15.000 Euro dotierte gleichnamige Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.
Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.