Es geht weiter mit unserer Vorstellung der diesjährigen Nominierten für den WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte. Der vierte Text der diesjährigen Shortlist ist Der Krieg und die Trauer von Olga Martynova.
Wir schreiben das Jahr 2023. Es sind bereits fast neun Jahre vergangen, seit Russland die Krim völkerrechtswidrig annektiert hat. Fast ein Jahr ist es her, seit der Angriffskrieg dann die ganze Welt endgültig aufgerüttelt hat und auch die deutsche, nicht gerade für mutige Schritte bekannte Regierung eine »Zeitenwende« ausgerufen hat. Das Modell einer befriedeten Welt, in dem sich der Westen seit dem Ende des Kalten Kriegs wähnte, ist mit der offenen Aggression Putins und dem ahistorisch anmutenden Territorialkrieg am Rande Europas dahin.
Geht es für die westlichen Länder dabei vor allem um den Verlust von Wohlstand und Sicherheit, steht für Menschen in und aus der Ukraine dabei etwas vollkommen anderes auf dem Spiel: ihre Heimat, ein Teil ihrer Identität. Die aufs Engste verschlungene Geschichte Russlands und der Ukraine ist im Angesicht des Kriegs kaum mehr zu verstehen, wirkt hinter Bildern von Massengräbern und zerstörten Altstädten oder Nachrichten über Angriffe auf Krankenhäuser und Schulen wie aus der Welt gefallen. Und gleichzeitig geht für diese Menschen das Leben weiter – wie soll man einfach so weiterleben im Angesicht eines Angriffs auf die eigene Identität?
In ihrem Essay Der Krieg und die Trauer verschränkt Olga Martynova die beiden Ebenen, legt das Persönliche und die Weltpolitik zusammen, um die Welt wieder in eins zu schreiben. So steht die Trauer um den Tod des Ehemanns, des jahrzehntelangen Begleiters, neben dem Grauen des Kriegs. Was kann helfen, wenn das eigene Leben von zwei so elementaren Verlusten bedroht wird? Zumindest eine Antwort kann die Kunst sein. In ihrer Anschauung, dem Versenken in sie, liegt ein Trost, der zwar nichts heilen, aber Linderung schaffen kann.
Hier könnt ihr den beeindruckenden Essay von Olga Martynova nachlesen. Um dem Text noch etwas mehr Kontext zu geben, haben wir der Autorin ein paar Fragen gestellt.
Dein Text besteht aus verschiedenen Elementen – Tagebucheinträgen, Gedichten, Zitaten – wieso hast du diese Form gewählt?
Ich wähle nie die Form. Die Form wählt mich, genauer gesagt, sie kommt gleich mit dem ersten Impuls für einen Text. Ich folge ihren Regieanweisungen.
Du schreibst über das Verhältnis von individueller und kollektiver Erschütterung. Wie gehst du selbst tagtäglich mit diesen Zusammenhängen um?
Das ist fast das Hauptthema meines Textes. Hätte ich das in zwei-drei Sätzen sagen können, wäre er zwei-drei Sätze lang.
»Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung«, heißt es in deinem Beitrag. Wie kann das in der heutigen Zeit zwischen Krieg und Krisen gelingen?
»Zum Denken gehört nicht nur die Bewegung der Gedanken, sondern ebenso ihre Stillstellung« – das sind nicht meine Worte, ich zitiere an dieser Stelle Walter Benjamin. Kurz nachdem Benjamin das geschrieben hatte, hat er sich das Leben genommen. Ich bezweifle, dass er die »Stillstellung« der Gedanken als Zweck begriffen hat. Vielmehr beschreibt er damit das innerliche Vorgehen in einem Schockzustand und hofft, dass auch in diesem Zustand das Denken fortgesetzt wird.
Der zitierte Text, Über den Begriff der Geschichte, ist ein Zeugnis menschlicher Würde (die Blaise Pascal zufolge im Denken liegt): Gedacht und geschrieben in einer ausweglosen Lage und angesichts der Weltkatastrophe.
Der Bezug zur Kunst ist ein essentieller in deinem Text. Wie kann Kunst bei der Verarbeitung von tragischen Erlebnissen helfen?
W. H. Auden schrieb in seinem Gedicht In Memory of W. B. Yeats, »… poetry makes nothing happen: it survives« (Poesie bewirkt nichts, sie überlebt). Das ist eine wichtige Aussage. Und eine rätselhafte. Für W. H. Auden war die Frage, was Poesie kann, eine wesentliche. Er war Zeuge der Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts, ein Zeuge, der an der Hilflosigkeit der Kunst verzweifelte, denn, schrieb er, kein Gedicht konnte einen einzigen Juden retten.
Aber was bedeutet das, dass Poesie »überlebt«? Vielleicht das, dass Poesie (und breiter gesehen überhaupt Kunst) eine von uns ist? Jeder einzelne von uns stirbt, wir als Menschheit überleben. Kunst überlebt nicht uns, sie überlebt zusammen mit uns, und es ist eine manchmal absurd wirkende Aufgabe. Sie spricht mit uns und sie hört uns (und wir sprechen mit ihr und hören sie). Das ist nicht viel und kann niemanden retten. Aber das ist auch nicht wenig.
Was kann Literatur deiner Meinung nach gerade heutzutage gesellschaftspolitisch bewirken?
Literatur kann uns jeden Tag daran erinnern, dass wir alle Menschen sind, in erster Linie Menschen und erst dann Männer, Frauen, nicht-binär*, Europäer, Afrikaner, Bäcker, Schauspieler, Verliebte, Kranke, Verbrecher, Asketen, Alkoholiker, Dörfler oder Städter. Dass jeder Mensch eine unersetzliche Welt ist. Dass wir als Menschheit entweder eine gemeinsame Zukunft haben oder keine.
Und eigentlich ist ein jedes Tier und ein jeder Baum gewissermaßen ein Mensch, und auch daran erinnert uns ab und zu Literatur (oder andersrum: dass ein jeder Mensch gewissermaßen ein Tier oder ein Baum ist). Ich weiß natürlich, dass das »Menschsein« sich stark diskreditiert hat, dass der Mensch an sich zurecht nicht mehr als moralisch hochstehend gilt. Umso dringlicher wird die Angelegenheit, sich mit dem »Menschsein« auseinanderzusetzen. Schließlich tun eben dies alle Shortlist-Texte, die ich nun gelesen habe. Deshalb freut und ehrt es mich, dass auch mein Text dabei ist.
Vielen Dank für deine Antworten.
Olga Martynova, geboren 1962 in Sibirien, aufgewachsen in Leningrad, wo sie in den 1980ern die Dichtergruppe »Kamera Chranenia« mitbegründete. 1991 zog sie zusammen mit Oleg Jurjew (1959–2018) nach Deutschland. Seit 1999 schreibt sie literarische Texte nicht nur auf Russisch, sondern auch in deutscher Sprache, seit 2018 nur in deutscher Sprache. Zuletzt erschienen bei S. Fischer: Der Engelherd, Roman (2016), Über die Dummheit der Stunde, Essays (2018). Olga Martynova ist Mitglied des PEN und der Deutschen Akademie für Sprache und Dichtung sowie der Akademie der Wissenschaften und der Literatur (Mainz). Sie erhielt u. a. den Ingeborg-Bachmann-Preis (2012) und den Berliner Literaturpreis (2015).
Hier findet ihr alle Vorstellungen der diesjährigen Shortlist-Texte.
Der »WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte« wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Bisher erhielten den WORTMELDUNGEN-Literaturpreis Petra Piuk, Thomas Stangl, Kathrin Röggla, Marion Poschmann und Volha Hapeyeva. Der mit 15.000 Euro dotierte Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.
Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.