Der dritte Streich: Max Czollek schreibt in Versöhnungstheater weiter gegen die falschen Versprechungen der deutschen Erinnerungskultur an und bleibt den beiden Vorgängerbüchern dabei treu.
1.700 Jahre Judentum in Deutschland wurden vor Kurzem groß gefeiert. Gerade in Berlin, wo mit dem rekonstruierten Stadtschloss inklusive Humboldt Forum ein neuer Ort für Geschichte, Erinnerungskultur und allgemein Ausstellungen entstanden ist. Neben der offensichtlichen Frage, wo die Veranstaltung »1.700 Jahre Antisemitismus in Deutschland« blieb, stellt sich aber vor allem diejenige nach dem Warum. Warum sind Jüdinnen und Juden trotz Jahrhunderten von antisemitischen Beschuldigungen und Politik, gipfelnd in, aber keineswegs endend mit der Shoah, immer noch in Deutschland anzutreffen?
Während Jüdinnen und Juden sich beständig an den verschiedenen Dimensionen des »Trotzdem« abarbeiten, steht gerade für deutsche Politiker*innen aber ziemlich fest, was Deutschland zu einem vorbildlichen Land macht: Es ist die Erinnerungskultur, die in so besonderer Weise die Schrecken und Gräueltaten des Zweiten Weltkriegs und der Shoah aufgearbeitet hat und weiter aufarbeitet. Gerade wegen dieser Leistung sind die Gräuel eben auch vergeben, man hat sich versöhnt, die Stunde Null hinter sich, alles ist wieder gut. Kapitel abgeschlossen, sozusagen, Ende der Schuld qua Erinnerungskultur.
Diese in vielen Reden deutscher Politiker (nicht gegendert!) zur Schau gestellte Position nimmt Max Czollek in den Mittelpunkt seines neuen Essays Versöhnungstheater, der auf Desintegriert euch! und Gegenwartsbewältigung folgt. Wer die beiden Vorgänger schon gelesen hat, stößt hier auf bekanntes Terrain, denn das deutsche Versöhnungstheater war auch schon Teil der beiden vorangegangenen Essays. Der Fokus liegt aber nun komplett auf diesem Aspekt, weshalb sich auch dieser dritte Essay wieder sehr lohnt und die Vorgänger wunderbar ergänzt und aktualisiert.
Im Mittelpunkt stehen damit das öffentliche Engagement gegen Antisemitismus, das ganz explizit zur Staatsraison gehört, und die gleichzeitige Blindheit auf dem rechten Auge, die Bundesrepublik wie auch DDR seit den 1950er Jahren geprägt hat und dieses Engagement in seiner Aufführung komplett ad absurdum führt.
[S]tatt als ernsthafter Ausdruck der eigenen Absichten dienten die großen Gesten der Erinnerungskultur als eine Reihe von Ersatzhandlungen, die es erlaubten, eine deutsche Identität nach 1945 von der Vergangenheit zu entlasten, ohne den Preis zu zahlen, den man für die Herstellung von Gerechtigkeit hätte zahlen müssen. Das Kunststück der Wiedergutwerdung ohne Wiedergutmachung.
So gab es keine konsequente Verfolgung von Nazis in BRD und DDR, keine ernstzunehmende Aufarbeitung oder gar Entschädigung von Zwangsarbeit der deutschen Konzerne, die davon enorm profitiert haben, und jahrzehntelang kein echtes Engagement gegen Antisemitismus und rechte Gewalt. Hinzu kommt eine Erinnerungskultur, die den verschwindend geringen bürgerlichen Widerstand gegen die Nazis in den Personen Stauffenberg und den Geschwistern Scholl in höchste Höhen hievt und damit den Mythos des braven deutschen Volkes, das den bösen Nazis zum Opfer gefallen ist, immer weiter nährt.
Das alles macht Czolleks Versöhnungstheater wieder zu einem ebenso unterhaltsamen wie streitbaren Text, der Deutschland nicht im eigenen Taumel von Friede, Freude und Sonnenschein belassen will, sondern Taten statt Lippenbekenntnisse fordert. Denn leider zeigen reihenweise aktuelle Ereignisse, dass Antisemitismus und rechte Gewalt in keiner Wiese zurückgehen und die Vergangenheit für viele Personen mitnichten adäquat aufgearbeitet wurde. Ein ähnliches Bild zeigt sich im Übrigen auch, wenn man den Kampf gegen den Klimawandel ansieht. Interessante Koinzidenz, wie ich finde.
Max Czollek: Versöhnungstheater | Hanser | 176 Seiten | 22 Euro | Erschienen im Januar 2023
Hör ich gerade auf Spotify, da gibt’s alle drei Czolleks als Hörbücher. 👍
Oh, danke für den Tipp, Stefan!