Das Zerfließen der Welt: In Monde vor der Landung von Clemens J. Setz prallen Weltbilder aufeinander, während die Nationalsozialisten die Macht übernehmen. Ein historisches Psychogramm.
Es ist nach heutigen Maßstäben wohl schon ein Wunder, dass diese Geschichte um Peter Bender überhaupt in dieser Form geschrieben werden kann. Denn Bender kämpft als junger Mann im Ersten Weltkrieg, und zwar als Pilot. Aller späteren Verklärung rund um den »Roten Baron« von Richthofen zum Trotz war dies jedoch vielmehr ein Kamikaze-Geschwader als irgendetwas anderes. Ohne Ausbildung werden die Männer in fliegende Blechbüchsen gesetzt, Helm und Brille auf, die besten Wünsche, und los geht’s. Bender stürzt ab, überlebt mit einer schweren Kopfverletzung. Von da an wird er nicht mehr der selbe sein.
Bender wird zum Religionsgründer, die »Wormser Menschengemeinde« sein großes Lebensprojekt. Inhalt seiner Religion ist in erster Linie ein neues Weltbild, das das allgemein bekannte auf den Kopf stellt, oder vielmehr umstülpt. Denn Bender sieht die Welt als Hohlraum, als ausgehöhlte Kugel, in der das ganze uns bekannte Universum angelegt ist. Immer wieder sieht er in den Himmel und rechnet sich aus, welcher Erdteil gerade gegenüberliegt. Was außerhalb der Kugel liegt, ist undenkbar. Tatsächlich haben andere Denker der Zeit unabhängig von ihm ähnliche Gedanken, und sie stehen in regem Austausch über ihre Ideen.
Seine kleine Gemeinde, die ihn ernährt, wächst aber kaum, er nagt mit seiner Familie beständig am Hungertuch. Doch das ist nicht die einzige Sorge, denn die Nationalsozialisten werden immer mächtiger und alle abweichenden politischen Bestrebungen – und als solche wird seine Gemeinde gesehen – immer stärker unterbunden. Häufig landet Bender im Gefängnis, während seine Frau Charlotte die Familie über Wasser hält. Auch das wird nicht einfacher, denn sie ist Jüdin und von Tag zu Tag stärker bedroht.
Clemens J. Setz schildert in Monde vor der Landung die Zeit zwischen den Weltkriegen aus einer heute reichlich absurd anmutenden Perspektive. Der durch seine Kopfverletzung immer stärker verwirrte Bender ist ein überaus seltsamer Protagonist. Zum einen ganz Mann seiner Zeit, der die Frau nicht arbeiten sehen will und die Familie höchstselbst ernähren möchte, zugleich wenig für die eigenen Kinder übrig hat und sich dazu auch noch Geliebte hält. Zum anderen eine Art Verschwörungsdenker, der ganz in seiner eigenen Welt lebt, die aber im Gegensatz etwa zu den Nazis und heutigen Verschwörungsmythen nicht darauf ausgelegt ist, eine böse Elite zu brandmarken, die »das Volk« unterdrückt.
Akribisch zeichnet Monde vor der Landung das Psychogramm Benders in einer stetig weiter kippenden Zeit. Setz arbeitet mit Versatzstücken aus Benders 1927 erschienenem Roman Karl Tormann, der stark autobiografisch geprägt ist, sowie Briefen und Notizen Benders, die immer wieder als Abbildungen eingefügt sind. So bindet er seine Romanfigur engstmöglich an den historischen Bender, was dem Roman viel Zeitgeist einhaucht. Auch sprachlich schafft es Monde vor der Landung exzellent, sich in der Zwischenkriegszeit anzusiedeln. Nur hier und da bricht die Erzählstimme aus, sodass immer auch eine gewisse Unruhe in der Erzählung bleibt.
Der Roman verfolgt Bender durch die gesamte Zwischenkriegszeit, mit vielen Rückblenden in den Ersten Weltkrieg. Der Zweite Weltkrieg beginnt im Roman nicht mehr, ganz zum Schluss versetzt sich der Roman in eine Art Stakkato, in dem nur noch in kleinen Episoden Benders letzte Lebensmonate geschildert werden.
Monde vor der Landung ist ein beeindruckender Roman, der überzeugend in die Zwischenkriegszeit entführt und einen überaus eigentümlichen Protagonisten zum Leben erweckt. Der Roman ist Zeitbild wie Psychogramm, und ganz nebenbei eine Geschichte der Verschwörungserzählung vor dem Internet und den sozialen Medien. Ob eine noch viel wirrere Bewegung als Benders Hohlwelttheorie – wie etwa Querdenken – damals eine Chance gehabt hätte? Wohl kaum.
Clemes J. Setz: Monde vor der Landung | Suhrkamp | 528 Seiten | 26 Euro | Erschienen im April 2023