Ralph Tharayil: Nimm die Alpen weg

Von einem anderen Aufwachsen in der Schweiz: Nimm die Alpen weg von Ralph Tharayil ist ein Langgedicht über Zugehörigkeit und Ausschluss, Sprache, Rassismus und Armut.

Ralph Tharayil: Nimm die Alpen weg, Cover

Ach ja, die Schweiz. Alles so schön sauber, die Bahn ist pünktlich, die Menschen sehen so freundlich aus. In der Migros gibt’s keinen Alkohol, dafür regionale Lebensmittel von bester Qualität. Und das Essen in den Restaurants erst, der Kaffee – einfach klasse, dieses Niveau selbst im kleinsten Detail. Dazu der durchgängige Blick auf die Ampeln und natürlich die niedrigen Steuern, die Banken überhaupt. Ein Traum.

Ein Traum bleibt diese Welt vor allem für die Menschen, die sie sich nicht leisten können. Denn alles in der Schweiz ist nur so lange schön und genussvoll, wie man es sich leisten kann. Da habe ich mir als Mittelschichtsdeutscher schon oft auf die Zunge gebissen bei einem kleinen Mittagssnack für 25 Franken. Ganz zu schweigen von einem schönen Abendessen zu zweit. Ohne ein ordentliches Schweizer Gehalt ist die Eidgenossenschaft genauso erratisch wie die Berge im Hintergrund.

Doch wie muss es erst sein, wenn man aus Indien in die Schweiz migriert? Nimm die Alpen weg von Ralph Tharayil verarbeitet die Eindrücke einer Jugend in einem Langgedicht. Es ist trotz des Roman-Labels in allererster Linie ein Gedicht. Es arbeitet durchweg mit lyrischen Mitteln, um Stimmungen, Gefühle und Erlebnisse zu beschreiben, wird dabei aber selten szenisch oder erzählend. Deshalb ist die edition AZUR hier auch genau der richtige Erscheinungsort.

Zahlreiche Themen durchziehen Nimm die Alpen weg wie Flöze den Berg. Immer wieder kommt ein neues Thema an die Oberfläche, mischt sich mit anderen, wird vertieft, verabschiedet sich wieder, um später wieder aufgegriffen zu werden. Im Mittelpunkt stehen der Erzähler und sein Bruder sowie ihre Eltern, die aus Südindien in die Schweiz kamen, um Arbeit und ein gutes Leben zu finden. Die Kinder sprechen im Gedicht, um ihr Leben zu verarbeiten und ihre Eindrücke zu ordnen, auch wenn dies in der Fülle kaum zu bewältigen ist.

Es geht dabei immer wieder um die vielschichtigen Erfahrungen des Andersseins. Alle möglichen Aspekte an ihnen scheinen sie von den anderen Schweizer*innen zu unterscheiden. Da ist die Sprache ihrer Eltern, Tamil, ihre dunkle Hautfarbe, die schlecht angesehene Arbeit ihrer Eltern, die auch noch fast den ganzen Tag einnimmt. Und oft auch noch die Nacht. Da ist ihre schlechtere Kleidung, die kleine Wohnung, fehlende Dinge für die Schule. Rassistische Diskriminierung, Ausgrenzung und Armut bilden den Boden, auf dem die Geschwister groß werden.

Nimm die Alpen weg gibt diesen Erfahrungen eine ganz eigene Sprache, die die Erlebnisse reflektiert. Es gibt dabei keine Systematik oder Methode, immer wieder kommen kleine Eindrücke nach oben, immer wieder wiederholen sich die Themen in unterschiedlichen Variationen, die sie aber immer auch ein Stück weiterbringen, ein Stück mehr Verständnis erwirken.

Das Gedicht trotzt einer Jugend Sinn ab, die unter ständiger Bedrohung von außen steht. Ein eindrucksvoll in sich kreisender Text, der eine andere Perspektive auf die Schweiz eröffnet als Geld und Berge und diese so emotional und eigenwillig beschreibt, dass sie noch lange im Gedächtnis bleibt.

Ralph Tharayil: Nimm die Alpen weg | edition AZUR | 128 Seiten | 22 Euro | Erschienen im Februar 2023

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Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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