Die Fäden der Vergangenheit: In ihrem Debütroman Für Seka erzählt Mina Hava von der postmigrantischen Gedankenwelt einer jungen Frau zwischen Bosnien und der Schweiz.
Archive sind Landschaften der Erinnerung. Schicht für Schicht lagern sich in ihnen Dokumente an, die das Gewesene bezeugen, die Zeit festhalten und aus diesen Schichten Landschaften der Vergangenheit bilden. Wer in sie eintaucht, Löcher gräbt, Minen aushebt, stößt, je tiefer man gräbt, auf Vergessenes, Verborgenes vielleicht sogar, das sich dem Blick der Gegenwart entzogen hat. Auch das Grauen kann in der Tiefe schlummern.
Seka gräbt in Archiven. In der Schweiz sucht sie nach Spuren der Vergangenheit. Nicht ihrer eigenen, denn mit ihren gut zwanzig Jahren wird sie davon noch kaum etwas finden. Doch das Schicksal ihrer Familie muss sich irgendwo finden lassen, es muss bessere Blicke darauf geben als die dürren Worte, die sie ihren verbliebenen Familienmitgliedern in Bosnien entlocken kann. Sie haben das Grauen des Krieges gesehen, es miterlebt, viele Verwandte verloren. Es hat sie verstummen lassen.
Im Archiv entdeckt Seka die Geschichte des Gefangenenlagers Omarska, das in ihrem Heimatort lag, doch heute kaum Spuren hinterlassen hat. Erst hier, in den staubigen, sterilen Archiven der weit entfernten Schweiz, findet sie die Geschehnisse der 1990er-Jahre, kann sich zumindest ausmalen, was mit ihrer Familie und den anderen Menschen der Stadt passiert ist. Ebenfalls stößt sie auf den Brief eines Generals, der das Töten im Lager mitverantwortete.
Für Seka übersetzt Sekas Suche nach Spuren der Vergangenheit in eine literarische Form, die diese Suche beim Lesen spürbar, ja nachvollziehbar macht. Denn es gibt in dem Roman wenig, das klar und einfach gesagt wird. Ganz im Gegenteil stehen die verschiedenen Themenstränge an der Oberfläche fragmentiert und vereinzelt nebeneinander. Es gibt keine Chronologie, keine Handlung, keinen einfachen roten Faden, der sich durch den Roman zieht. Vielmehr reichern sich die Fragmente immer weiter zu Strängen an, nähern sich den anderen Themen und bilden so am Ende ein Ganzes, das den vielen verschiedenen Gedanken eines Bewusstseins auf der Suche nach der Vergangenheit der eigenen Familie nahekommt.
Das braucht viel Aufmerksamkeit und Geduld, doch Für Seka belohnt all dies mit einem höchst emotionalen und einfühlsamen Leseerlebnis, das sehr eindrücklich für sich steht und mit der Zeit auch einen unerwarteten Sog erzeugt. Die Themenstränge verknüpfen die postmigrantische Identität Sekas mit dem Bosnienkrieg der 1990er-Jahre, mit körperlicher Gewalt und Grausamkeit, die in ihr selbst noch zu arbeiten und in den Knoten, die sie beständig in ihrer Brust fühlt, einen körperlichen Ausdruck zu finden scheinen. Ein intensiver Roman, der in seiner Eigensinnigkeit und Intensität ein mehr als beeindruckendes Debüt ist.
Mina Hava: Für Seka | Suhrkamp | 278 Seiten | 24 Euro | Erschienen im April 2023