Eine lesbische Stimme aus Sibirien: Die Wunde von Oxana Wassjakina erzählt vom Tod der Mutter in einem unglaublich riesigen, kalten Land, und lässt dabei ganz leise auch subversive Töne erklingen.
Der Tod nahestehender Menschen ist immer ein einschneidendes Erlebnis. Die eigenen Eltern nochmal mehr, besonders, wenn eine enge Bindung bestand. In Oxana Wassjakinas Roman Die Wunde steht der Tod der Mutter im Mittelpunkt. Hier nimmt das Erzählen der Protagonistin seinen Anfang, hierhin kommt er auch beim gelegentlichen Ausfransen immer wieder zurück.
Die Gegenwartshandlung des Romans besteht in erster Linie aus einer Art Roadtrip in die eigene Vergangenheit der Erzählerin. Denn nach dem Tod der Mutter gilt es nicht nur, mit der eigenen Trauer klarzukommen, sondern auch, den Körper der Mutter einäschern zu lassen und nach Ust-Ilimsk zu überführen. In der nördlich der Mongolei gelegenen sibirischen Stadt hat die Erzählerin ihre Jugend mit der Mutter verbracht. Hier soll sie begraben werden, an dem einen Ort, an dem die beiden sich noch am meisten als Familie gefühlt haben. Also startet sie von Moskau aus, um die Mutter in die über 5.000 Kilometer entfernte Heimatstadt zu überführen.
Die Wunde ist allerdings kein wirklich plotgetriebener Roman, er wechselt zwischen kleinen Stücken der Gegenwartshandlung immer wieder zu trauernden Passagen, von dort in essayistische Notizen über das weibliche Schreiben, und ganz viel auch in die eigene Vergangenheit, in der sie die überaus komplizierte Beziehung zur Mutter Revue passieren lässt. In der Mischung hat mich das Buch sehr an I Love Dick von Chris Kraus erinnert.
Hier wie dort habe ich mich mit den für meinen Geschmack zu theatralischen Trauerpassagen sowie den etwas nichtssagenden und manchmal sehr weit abschweifenden poetischen Notizen aber doch etwas rumgequält und immer mal wieder Kapitel übersprungen.
Die näher am Geschehen bleibenden Passagen über das Aufwachsen im postsowjetischen Russland und die Schilderungen der verschiedenen sibirischen Städte haben mich dagegen gepackt. In diesen Teilen verbinden sich für mich überaus spannend Trauer und Zweifel über die Beziehung zur Mutter sowie das Leben als lesbische Frau und Feministin mit der unglaublichen Weite Russlands und vor allem Sibiriens und dem allgegenwärtigen postsowjetischen Grau.
In diesen erzählerischen und reflektierenden Teilen spielt Die Wunde von Oxana Wassjakina seine Stärken voll aus und macht Lust auf mehr. Die Übersetzung von Maria Rajer trifft dabei wunderbar den Ton der Tristesse, die sich der Erzählerin immer wieder bietet. Wirkliche Kritik an Russland bzw. der dortigen Politik wird dabei übrigens praktisch gar nicht geübt, was angesichts der Repression gegen Andersdenkende aber ziemlich verständlich ist. Zwischen den Zeilen scheint hier und da nur mal eine Andeutung auf, und das reicht.
Oxana Wassjakina: Die Wunde | Aus dem Russische von Maria Rajer | Blumenbar | 300 Seiten | 22 Euro | Erschienen im Mai 2023