Vom Versuch zu schreiben: Ronya Othmann nimmt sich in Vierundsiebzig den Genozid des IS an den Jesid*innen von 2014 vor. Doch wie kann man das Grauen wirklich zu fassen bekommen?
Was für die meisten Menschen in Deutschland nur ein weiteres Kapitel des syrischen Bürgerkriegs darstellt, ist für Jesid*innen der 74. Ferman. Der Begriff bezeichnet schwere Übergriffe auf die verhältnismäßig kleine Religionsgruppe. 2014 überfiel der IS die Gegend um Sindschar, aus der sich die kurdischen Peschmerga zuvor zurückgezogen hatten, und töteten tausende Jesid*innen, vergewaltigten und versklavten knapp 10.000 Mädchen und Frauen und vertrieben Hunderttausende aus der Region. Die UN wird dies später als Völkermord bewerten. Noch heute sind damals versklavte Menschen verschwunden.
Schon Ronya Othmanns erster Roman Die Sommer führte in die Region. Nicht direkt nach Sindschar, aber ganz in die Nähe. Dort verbringt die Protagonistin Leyla die Sommer bei ihren Großeltern und der erweiterten Familie. Ging es dort vor allem um die Zerrissenheit Leylas zwischen zwei komplett unterschiedlichen Welten und das Erwachsenwerden in diesem Zwischenraum, brodelte der Völkermord noch kaum merklich im Hintergrund. In Vierundsiebzig rückt dieser nun unverstellt in den Vordergrund. Doch war das Erwachsenwerden zwischen den Dörfern der Jesid*innen in Syrien und Deutschland schon kompliziert, rückt der Versuch, über den Völkermord zu schreiben, an den Rand der Unmöglichkeit.
Zwar ist Vierundsiebzig als Roman kategorisiert, doch rückt die Fiktion hier in den Hintergrund. Auch das Erzählen selbst steht erst am Ende eines langen Prozesses. Das Buch umfasst diesen Prozess der Annäherung an ein unvorstellbares Ereignis, das sich erzählend weder greifen noch fiktionalisieren lässt. Der Roman steht vor dem gleichen Dilemma wie zahllose Werke der Holocaust-Literatur, Zeugnis ablegen zu wollen von einem Ereignis, das den kollektiven Vorstellungshorizont übersteigt.
Vierundsiebzig versucht also gar nicht erst den großen Wurf, sondern dokumentiert das Herantasten, das Einkreisen und immer wieder Neuversuchen. Auf jeder Seite fangen Absätze an mit: »Ich lese:« oder »Ich schreibe:«. Dahinter oft Informationen rund um den Völkermord, wie etwa ein Prozess gegen eine deutsche IS-Heimkehrerin, die Jesidinnen als Sklavinnen gehalten und mit ermordet hat. Oder Schilderungen aus alten historischen Werken über die jesidische Religion und Kultur aus westlicher Perspektive.
Das Ich des Romans geht auf Abstand zu sich selbst, in der Distanz der Beschreibung wird immer mehr noch ein weiteres Dilemma greifbar: die Verortung der eigenen Identität der Protagonistin, der in Deutschland lebenden Nachfahrin von Jesid*innen, die mit dem Glauben selbst kaum Berührungspunkte hat. Wo steht sie selbst in all dem Beschriebenen? Erst am Schluss mündet der Roman dann doch noch in eine Erzählung, einen Roadtrip mit dem Vater durch das Siedlungsgebiet der Jesid*innen, das von verschiedenen Gruppen kontrolliert wird und eine Odyssee von Checkpoint zu Checkpoint ist.
Vierundsiebzig ist ein überaus persönlicher und gleichzeitig distanzierter Roman. Sein dokumentarischer Ansatz macht ihn zeitweise trocken, doch in jedem noch so trockenen Absatz liegt ein Antrieb, ein unbedingter Wille zum Beschreiben und Bezeugen der Grausamkeit, der viel zu vielen anderen Bücher in dieser Form komplett abgeht. Das macht den Roman zu einem ganz besonderen.
Ronya Othmann: Vierundsiebzig | Rowohlt | 512 Seiten | 26 Euro | Erschienen im März 2024