Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit

Der kleinste autoritäre Nenner: Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey untersuchen in Gekränkte Freiheit, was die Querdenker*innen im Innersten zusammenhält. Und mehr.

Während derzeit in der Politik wie auch in der Zivilgesellschaft darüber debattiert wird, wie und, wenn ja, in welcher Form es eine staatliche Aufarbeitung der Corona-Zeit geben soll, stellen sich der Soziologie andere Fragen. Denn Krisen offenbaren meist noch im verborgen liegende gesellschaftliche Entwicklungen, setzen frei, was bis dahin vielleicht nur in privatem Rahmen sichtbar war, und lassen damit eine neue Perspektive auf unsere Welt zu. Vielleicht ein klein wenig Gutes, was man aus einer ansonsten ziemlich furchtbaren Zeit mitnehmen kann. Denn eigentlich ist ja wieder alles wie vorher, viel gelernt wurde offenbar weder in der Politik noch in der Zivilgesellschaft.

Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey richten den Blick in Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus also auf ein neues Phänomen der Pandemie: Ansammlungen von auf den ersten Blick unterschiedlichsten Menschen, die vereint sind im Protest gegen die Corona-Maßnahmen. Anfangs als »Hygienedemos« vor der Berliner Volksbühne, dann überall im Land, auch als Spaziergänge, mit der Zeit immer organisierter in der Querdenken-Bewegung, auch mehr nach rechts driftend, aber nie ganz durch rechte Parteien und Organisationen vereinnahmt. Was also vereint diese Menschen? Wieso kommen Altlinke, Bürgerliche, Verschwörungsgläubige, Rechte und andere Menschen hier plötzlich zusammen und protestieren gemeinsam? Und welche tieferliegenden Entwicklungen deckt dies vielleicht auf?

Schon einige Bücher haben sich zuvor daran versucht, doch verblieben sie immer in rein hypothetischen Gewässern, da keine Grundlagenforschung zu der neuen Gruppe vorhanden war. Diese liefert Gekränkte Freiheit nun. Die Autor*innen haben qualitative Interviews mit einer großen Anzahl von Beteiligten geführt, die die empirische Grundlage bilden. Eingeordnet werden sie dann in eine große soziologische Theorie unserer westlichen Gegenwart.

Die Gegenwartsdiagnose baut in erster Linie auf einer aktualisierten Variante von Ulrich Becks Risikogesellschaft und aktuellen Analysen wie vor allem Andreas Reckwitz’ Die Gesellschaft der Singularitäten auf. Danach leben wir heute im Spätkapitalismus, dessen goldene Zeiten vorbei sind. Krisen und Vereinzelung prägen nun das Bild, die konventionalistische, organisierte Moderne mit ihren starken Parteien, Gewerkschaften, Vereinen und starker Normalisierung ist der restriktiven Moderne gewichen. Heute laufen vereinzelte Individuen sich widersprechenden Normen hinterher wie beruflichem Erfolg, guter Work-Life-Balance und zahlreichen Freizeitprojekten, die gerade durch die immer krassere Ungleichheit in der Gesellschaft für einen großen Teil der Bevölkerung noch unerreichbarer wird, was ein großes Konfliktpotenzial birgt. Außerdem führt die starke Liberalisierung der letzten Jahrzehnte zu restaurativen Backlashes.

Um sich den individuellen Verhältnissen der Coronaprotestierenden weiter anzunähern, wird die Gesellschaftsanalyse dann noch mit psychologischen Theorien untermauert. Diese fußen zum einen auf der Kritischen Theorie und zum anderen auf verschiedenen Affekttheorien. Die Zusammensetzung dieses Theorie- und Analysebaukastens nimmt den größten Teil von Gekränkte Freiheit ein, was in der Soziologie normal ist und ich mit sehr großem Gewinn gelesen habe. Zum Schluss werden dann die qualitativen Interviews anhand von einigen besonders aussagekräftigen Prototypen ausgewertet.

Wie der Titel des Buches schon andeutet, liegt die Gemeinsamkeit der Coronaprotestierenden, die ja wie beschrieben aus allen möglichen gesellschaftlichen Schichten und politischen Richtungen kommen, in einem Gefühl der gekränkten Freiheit. Ihre Vorstellung von Freiheit ist dabei eine libertär verdinglichte, also sie nehmen sich als vollkommen aus gesellschaftlichen Zusammenhängen und Abhängigkeiten gelöste, freie Menschen wahr, was durch die Coronamaßnahmen in höchstem Maße angegriffen wurde. Ihre Illusion von vollkommener Unabhängigkeit wird zerstört, was meist starke Affekte produziert, die wiederum das Zurückziehen in ein geschlossenes, meist von nicht weiter hinterfragten Verschwörungserzählungen gestütztes Weltbild und oft auch einer Nähe zur AfD nach sich zieht. Sie werden zu libertären Autoritären, die ihre illusionäre Freiheit mit Gewalt gegen alle Andersdenkenden wiedererlangen wollen.

Meine Darstellung ist natürlich extrem verkürzt, daher sei noch einmal betont, dass Gekränkte Freiheit für mich die ganzheitlichste und kohärenteste Gesellschaftsanalyse seit Langem ist und auch in ihrer Zuspitzung auf die Coronaprotestierenden überzeugt. Tatsächlich war das Buch für mich der soziologische Pageturner, als der es beworben wird. Im Großen und Ganzen sollte das auch für Nicht-Soziolog*innen stimmen, also große Empfehlung von meiner Seite.

Carolin Amlinger, Oliver Nachtwey: Gekränkte Freiheit. Aspekte des libertären Autoritarismus | Suhrkamp | 480 Seiten | 17 Euro (TB) | Erschienen im Oktober 2022

Kategorie Blog, Rezensionen, Sachbuch
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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