Eine Geschichte der Gewalt: Anne Rabe erkundet in ihrem Debütroman Die Möglichkeit von Glück eine ostdeutsche Familiengeschichte im 20. Jahrhundert und stand damit vollkommen zurecht auf der Shortlist des Deutschen Buchpreises 2023.
Ursprünglich hatte ich Die Möglichkeit von Glück von Anne Rabe überhaupt nicht auf dem Schirm. Die Nominierung für die Longlist und dann für die Shortlist des Deutschen Buchpreises hat das schon etwas geändert. Aber erst, als ich dann noch einige Interviews mit der Autorin zum Thema Gewalt in der DDR gelesen habe, wusste ich, dass ich hier zugreifen muss. Ich bin nicht in der DDR aufgewachsen und habe dort auch nur etwas entferntere Verwandtschaft, habe also keinen direkten Bezug. Trotzdem ist mit den immer größeren Konflikten zwischen den alten und den neuen Bundesländern in Deutschland ein Themenspektrum sehr aktuell, das immer wieder auch auf die Gewalt zuläuft – egal ob nun staatlich, gesellschaftlich oder im direkten Zusammenstoß.
Der Roman handelt von Stine, der Erzählerin, und ihrer Erkundung der eigenen Vergangenheit. Es beginnt also mit einzelnen Szenen, die ihr wieder vor Augen stehen, jetzt, da sie selbst Mutter ist und sich zwangsläufig an das eigene Aufwachsen erinnert. Die Szenen haben immer wieder ein Zentrum, das sie umkreisen: die Mutter. Diese ist der gewaltvolle Kern der Kleinfamilie, vor ihr haben Stine und ihr Bruder Tim Angst, müssen gehorchen, ihrem Willen genügen.
Schnell wird Stine jedoch klar, dass die Mutter allein nicht alle Gewalt darstellt, die ihr im Aufwachsen erfahren ist. Sie erinnert andere Situationen, vor allem nach der Wende, als andere Kinder und Jugendliche in Springerstiefeln sie traktieren. Erst einfach nur, weil sie schwächer ist, dann immer mehr auch, weil sie nicht versteht, wieso sie »die Ausländer« schlimm finden soll. So wird jeder Nachmittag nach der Schule zum Spießrutenlauf durch das Dorf, in dem die Erwachsenen routiniert wegschauen.
Doch da ist noch jemand, ihr Großvater. Immer mehr wird Stine klar, dass auch er ein Zentrum der Gewalt ist. Was arbeitet er eigentlich? Nie hat sie eine sinnvolle Antwort auf die einfache Frage bekommen. So fängt sie an zu recherchieren, in Archiven, Fotoalben, Gesprächen. Nach und nach entsteht dabei das Bild eines Funktionärs, der es nicht erst in der DDR verstand, in einem System voranzukommen – egal wie autoritär.
Die Möglichkeit von Glück erzählt Stines Suche nach den Ursprüngen der Gewalt in ihrem Leben sehr ruhig, machmal so ruhig, dass es fast gruselig wird. Der Roman springt mal in ihre Vergangenheit, dann in die des Großvaters, dann in die Gegenwart. Manches bringt Stine miteinander ins Verhältnis, denkt auf den Seiten über Bezüge und Entwicklungen nach, manches bleibt für sich stehen. Die Mischung, zusammen mit dem zurückgenommenen, sehr angenehm literarischen Stil macht den Roman überaus gut lesbar. Außerdem hält er eine Spannungskurve, die keine Andeutungen oder Vorausahnungen braucht, um zu fesseln.
Anne Rabe ist mit Die Möglichkeit von Glück ein großartiger Roman über die deutsche Geschichte im 20. Jahrhundert gelungen. Ihre Familie illustriert, wie ein möglicher Weg von der Weimarer Republik durch Nazi-Deutschland und die DDR in die wiedervereinigte Bundesrepublik aussehen kann. Gleichzeitig berührt der Roman viele größere Themen. Durch das Prisma der Gewalt blickt er auf Erziehung im Wandel der Systeme, die Wiedervereinigung, Baseballschlägerjahre und auf den gesellschaftlichen Wandel, den die Familie erlebt und als deren Ausprägungen sich die einzelnen Familienmitglieder lesen lassen. Ein Roman, der für mich auch gut den Deutschen Buchpreis hätte gewinnen können.
Anne Rabe: Die Möglichkeit von Glück | Klett-Cotta | 384 Seiten | 24 Euro | Erschienen im März 2023