Was bleibt von der Wokeness, seit viele Protagonist*innen nach dem 7. Oktober 2023 offen antisemitisch agieren? Jens Balzer denkt in seinem Essay After Woke über die Konsequenzen nach, sieht das Konzept aber nicht gescheitert.
Der 7. Oktober 2023 ist eine Zäsur. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel mit über 1.000 Ermordeten war der größte Pogrom seit der Shoah. Der darauf folgende Krieg Israels gegen die Hamas, der bald seit einem Jahr läuft, hat Mitte 2024 bereits über 40.000 palästinensische Opfer gefordert, Hunderttausende sind durch die Angriffe und Kampfhandlungen obdachlos geworden und im Gazastreifen auf der Flucht. Angesichts der Brutalität des Hamas-Terrors auf der einen und dem auch gegen die palästinensische Zivilbevölkerung erbarmungslosen Gegenschlag Israels auf der anderen Seite ist die Situation im ohnehin nie ruhigen Nahostkonflikt komplett entgrenzt, Verhandlungen um einen Waffenstillstand laufen aus verschiedenen Gründen immer wieder ins Leere. Hoffnungslosigkeit ist an der Tagesordnung, sowohl bei den Angehörigen der israelischen Geiseln als auch bei der palästinensischen Zivilbevölkerung.
Wie Meron Mendel in seinem herausragenden Buch Über Israel reden nachdrücklich feststellt, dient der Nahostkonflikt im Rest der Welt vor allem als Projektionsfläche, über die sich verschiedene Gruppen profilieren. Die Härte des israelischen Gegenschlags hat neben der arabischen Welt vor allem aber auch in der westlichen, postkolonial-antiimperialistischen Linken den latenten Antisemitismus komplett Überhand nehmen lassen. Auch in Deutschland erscheint der Kampf gegen Antisemitismus nicht mehr als gesellschaftlicher Konsens, jüdisches Leben wird durchweg bedroht und auch attackiert.
Damit geht eine Bankrotterklärung gerade derjenigen Linken einher, die sich selbst als »woke« bezeichnen, nun aber entweder offen antisemitisch agieren oder antisemitische Haltungen tolerieren oder fördern. In seinem Essay After Woke nimmt sich Jens Balzer diesen Widerspruch vor und fragt, was auf das ja eigentlich sehr hoffnungsvolle Konzept der Wokeness folgen mag, nachdem sich zahllose Protagonist*innen antisemitisch positioniert haben.
Um dem Problem auf den Grund zu gehen, fängt er ganz vorne an. Er geht sowohl an die Ursprünge des linken Antisemitismus bzw. Postkolonialismus und der queeren Theorie als auch an die des Konzepts der Wokeness. Wie konnte es so weit kommen, dass progressive, emanzipatorische Bewegungen sich sehenden Auges gegen den Kern der eigenen Überzeugungen wenden? Dass sie gegen das Existenzrecht Israels und dabei gleich auch noch gegen alle Jüdinnen*Juden auf die Straße gehen, versuchen, sie aus dem Kulturbetrieb auszuschließen und damit klar antisemitisch agieren?
After Woke liefert auf kleinem Raum gute, wenn auch natürlich nie alle Details abdeckende Antworten. Der Band verteidigt am Ende das Konzept der Wokeness als Wachheit gegenüber allen Formen von Diskriminierung gegen seine Protagonist*innen, die dem ohne Zweifel schweren Verdikt, auch die eigenen Meinungen immer wieder auf mögliche Diskriminierungen zu überprüfen, nicht mehr nachkommen. Seine Lösung erscheint so einfach, dass man heulen könnte, heute, im 21. Jahrhundert, so etwas überhaupt schreiben zu müssen: weniger Schwarz-Weiß-Denken, mehr Grautöne zulassen, differenzieren, keinen einfachen Slogans auf den Leim gehen. Es ist die große Stärke des Essays, dabei nicht zu verurteilend zu werden und keine einzelnen Personen in den Vordergrund zu rücken, sondern ebenjene Grautöne auch, so gut es geht, selbst zu sehen.
Jens Balzer: After Woke | Matthes & Seitz Berlin | 105 Seiten | 12 Euro | Erschienen im August 2024