Der neue Erzählungsband Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne von Saša Stanišić war wegen seines besonders langen Titels sogar schon bei »Wer wird Millionär?« – was kann er sonst noch?

Die Geschäftsidee eines Teenagers: Wie wäre es, wenn du in einen »Anproberaum« gehen könntest, um deine Zukunft für zehn Minuten auszuprobieren? »Wie bei Deichmann, nur nicht mit Schuhen, sondern mit dem Schicksal. Kostenpunkt: hundertdreißig Mark.« Diesem Ansatz folgt Stanišić in seinem neuen Erzählband und versetzt uns damit für einen kurzen Moment in verschiedene Leben.
Mich auf Kurzgeschichten einzulassen, fällt mir gar nicht so leicht, da es immer auch ein bisschen mühsam ist, eine neue Person und ihr Lebensumfeld kennenzulernen. Wenn man dann warm geworden ist mit der Figur, ist die Geschichte auch schon wieder zu Ende. Im neuen Erzählband von Saša Stanišić – der ja eigentlich auch eher Romanautor ist –, Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne, ist dieses Sich-Hineinversetzen ein bisschen einfacher, weil man von Anfang an die Prämisse kennt: Ein neues Leben soll hier nur kurz ausprobiert werden. Fühlt es sich gut an, kann man es einloggen. Wenn nicht, probiert man das nächste an. Umrahmt ist das Ganze, wie man es aus vielen Werken des Autors kennt, von autobiografischen Erlebnissen Stanišićs als Kriegsflüchtling in Deutschland und »Jugo«-Teenager in den Weinbergen von Heidelberg.
Ich muss zugeben, dass ich keins der Leben einloggen würde, die in den einzelnen Kapiteln beschrieben werden. Sie alle sind von einer gewissen Alltags-Tristesse geprägt, erzählt jedoch mit dem unverkennbaren und herrlichen Humor von Saša Stanišić. Da ist zum Beispiel der Kleinkind-Vater, der, während das Kind noch ein Baby war, mit ihm in der Trage spazieren ging und dabei ausgiebig Pokémon Go gegen Hamburger Halbstarke zocken konnte. Als er nun immer wieder gegen seinen Sohn im Piraten-Memory verliert, will er es vor lauter Verzweiflung heimlich entsorgen. Und da ist natürlich die titelgebende einsame Witwe, die auf dem Friedhof einen trauernden Mann kennenlernt.
»Heute ist es schwer.« Der Mann schniefte.
»Leicht ist es nur, wenn man zwischendurch vergisst. Aber weil man nie für immer vergessen kann, ist es nie für immer leicht«, sagte Gisel und war gehörig stolz auf die Erwiderung. Um den Eindruck, den sie hinterlassen hatte, nicht kaputtzumachen, eilte sie weiter. Der Mann sah ihr staunend hinterher. Stellte Gisel sich vor.
Es sind in diesem Buch nicht so sehr die Geschichten selbst, die mich fesseln, sondern vielmehr die Situationskomik und die Wortgewandtheit des Autors. Er schafft es außerdem, banalen Situationen einen tieferen Gehalt zu verleihen. So gewinnt auch die regelmäßige Doppelkopf-Runde bei dem arbeitslosen Zinke, der wieder bei seiner Mutter eingezogen ist und mit seinen Freunden die Zeit totschlagen, aber auch mal die Alltagssorgen vergessen will, eine gewisse Tiefe.
Doppelkopf ist eine Dimension, in der niemand fragt: »Was hast du noch vor?« Die anstrengendste Frage, oder? Beim Doppelkopf hast du noch vor, noch eine Runde Doppelkopf zu spielen. Jede Runde ist anders, und so bist du jede Runde jemand anders. Du verwandelst dich. Bist aggressiv, dann zurückhaltend. Hast einen Partner, dann wieder keinen. Schauspiel des Lebens.
Dieses Sich-Verwandeln und In-Rollen-Schlüpfen durchzieht wie ein roter Faden die ansonsten nur lose miteinander verknüpften Erzählungen. Fans von Stanišićs Erzählweise kommen hier absolut auf ihre Kosten. Besonders freue ich mich nun aber auf die Lesung mit dem Autor in Bremen, denn er soll ein echter Entertainer auf der Bühne sein.
Saša Stanišić: Möchte die Witwe angesprochen werden, platziert sie auf dem Grab die Gießkanne mit dem Ausguss nach vorne | Luchterhand | 256 Seiten | 24 Euro | Erschienen im Mai 2024
Saša Stanišić bei der globaleº 2024: Lesung und Gespräch am Samstag, den 2. November 2024 um 18 Uhr im Theater Bremen. Der Eintritt kostet 10 Euro und ermäßigt 7 Euro. Tickets gibt es hier.