Nicht erst seit dem 7. Oktober 2023 ist Antisemitismus in Deutschland ein Problem. Der von Nicholas Potter und Stefan Lauer herausgegebene Sammelband Judenhass Underground. Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen schaut auf die erweiterte linke Szene und deren Antisemitismusproblem in Vergangenheit und Gegenwart.
Heutzutage echauffieren sich Politiker*innen aller Lager sehr gern über importierten Antisemitismus. Migration ist eh das medial am meisten gepushte Thema der Politik, zum Sündenbock für alle denkbaren Probleme ernannt, da kann man auch noch den Antisemitismus den muslimischen Geflüchteten zuschieben. Dass es da seit dem frühen 20. Jahrhundert ohne Zweifel ein großes Problem gibt, will ich natürlich nicht bezweifeln. Allerdings sollte dieses nicht gegen den ureigenen deutschen Antisemitismus ausgespielt werden.
Der Sammelband Judenhass Underground, herausgegeben von Nicholas Potter und Stefan Lauer, nimmt den deutschen Antisemitismus in den Fokus, verengt diesen allerdings noch auf im weitesten Sinne linke Subkultur. In drei großen Blöcken nähert sich der Band dem Problem, und zwar in Theorie, Praxis und im Dialog.
Geht es in Ersterem um die Grundlagen wie Antisemitismus-Definition, die Geschichte des linken Antisemitismus und des BDS als größter internationaler antisemitischer Bewegung, nimmt die Praxis-Sektion verschiedene Subkulturen einzeln unter die Lupe. Hier glänzt der Band durch ein sehr breites Spektrum, das vom Kulturbetrieb mit Theatern, Literatur etc. über dezentrale antirassistische, queere und feministische Gruppen, der Klimabewegung, Clubkultur und Musikrichtungen wie Hip-Hop, Punk und Hardcore reicht. Im Dialog sind dann Interviews mit unterschiedlichen Personen gesammelt, die auch interessant sind, größtenteils aber den vorherigen Kapiteln nichts hinzufügen.
Hier auf Details einzugehen, ist kaum möglich, da einfach so viel in dem Band steckt. Was mir über alle Kapitel und Bereiche aber vor allem im Gedächtnis geblieben ist, ist die unglaubliche Fähigkeit des BDS, Menschen mit wenig bis null Ahnung vom Nahostkonflikt zu mobilisieren und damit ihre Agenda in alle möglichen Bereiche des kulturellen und politischen Lebens zu bringen.
So schaffen sie es, Jüdinnen und Juden in der ganzen Welt das Leben schwer zu machen, da sie systematisch aus immer mehr Zusammenhängen ausgeschlossen werden, da sie nicht als diskriminierte Gruppe, sondern als Aggressoren gesehen werden – komplett im Gegensatz zu den intersektionalen Ansätzen, die im linken Spektrum heute Standard sind. So führt Insta-Kachel-Aktivismus schneller zu Antisemitismus, als man sich vorstellt.
Judenhass Underground bildet damit die perfekte Ergänzung zu Jens Balzers Essay After Woke, der den vor dem 7. Oktober 2023 erschienen Sammelband noch um die allerneuesten Entwicklungen ergänzt. Gleichzeitig erweitert Judenhass Underground die historischen und lebensweltlichen Hintergründe, was ein erschreckendes Bild ergibt. Sehr zu empfehlen.
Nicholas Potter, Stefan Lauer (Hg.): Judenhass Underground. Antisemitismus in emanzipatorischen Subkulturen und Bewegungen | bpb / Hentrich & Hentrich | 249 Seiten | 4,50 / 22 Euro | Erschienen im August 2023