Roman Ehrlich: Videotime

Das Rauschen der Kopie: Videotime von Roman Ehrlich ist eine Reise zurück in die Zeit der Videotheken und überspielten VHS-Kassetten, in das Rauschen der Vergangenheit und den Kopierschatten, der immer noch auf der Gegenwart liegt.

Roman Ehrlich: Videotime, Cover

Eine Kleinstadt in Bayern, Hochsommer, Gegenwart. Ein Mann im mittleren Alter, um die vierzig wohl, mit Schweißflecken und einem deutlich sichtbaren Loch im Hemd, schleppt sich dehydriert über die ausgestorbene Hauptstraße. Er kehrt in ein Café ein, wo er mangels Alternativen Kaffee und Kuchen als Mittagessen bestellt. Mit rebellierendem Magen kehrt er zurück auf die Straße, irrt weiter durch die Stadt, in der er aufgewachsen ist. Und das alles nur, um den Besuch beim Vater noch etwas hinauszuschieben.

Der Mann ist der namenlose Protagonist von Roman Ehrlichs Familienroman Videotime. Der kleine Abriss der Gegenwartshandlung zeigt schon, dass die Familie hier nicht unter dem allerbesten Stern steht. In der Vergangenheitshandlung arbeitet der Roman die Zeit auf, als der Protagonist etwa im präpubertären Alter ist und sein Bruder in die Pubertät rutscht. Der Bruder ist das erfolgreiche Tennistalent, dem sich der Vater praktisch ausschließlich widmet, der Erzähler der dicke Nichtsnutz, der die Bälle aufsammeln darf. Die Ehe der Eltern steht kurz vor der Scheidung.

Kein Wunder, dass er nach einer Flucht aus dem deprimierenden Familienalltag sucht. Er findet sie in der Piratenvideothek des Vaters, einem penibel sortierten Archiv aus VHS-Kassetten, die der Vater von den Originalen aus der örtlichen Videothek überspielt. Die heißt natürlich Videotime und bildet den Dreh- und Angelpunkt des Romans. So laufen hier drei Ebenen parallel: Gegenwart, Vergangenheit und die Handlungen der zumeist so gar nicht altersgerechten Filme, die er in der Jugend angeschaut hat.

Videotime gelingt es, eine Zeit zum Leben zu erwecken, die ganz anders ist als die heutige. Videotheken, VHS-Kassetten, auch Audio-Kassetten und das lineare Fernsehen sind das analoge Gegenteil der digitalen Verfügbarkeit praktisch jedes denkbaren Mediums heute. Das Rauschen der Röhrenbildschirme wird dabei zum Leitmotiv, wenn der Erzähler immer wieder mit seinen Erinnerungen hadert, was sich vor allem in teilweise sehr langen Schachtelsätzen äußert. Die Form passt zum Inhalt, leicht verdaulich ist beides nicht. Der Roman braucht Zeit, um in die Gänge zu kommen, und bleibt bei einem sehr gemächlichen Tempo, das meine Lesegewohnheit schon auch herausgefordert hat.

Videotime von Roman Ehrlich ist eine Reise zurück in das analoge Zeitalter und setzt der VHS-Ästhetik ein literarisches Denkmal. Ältere Millenials, die selbst noch mit den elterlichen Piratenvideotheken aufgewachsen sind, bekommen hier einen schönen Trip in die eigene Jugend beschert, der erfreulich frei von sepiagetränkter Nostalgie bleibt. Im Gegenteil widersetzt sich der Roman eher der leichten Lektüre, was etwas Durchhaltevermögen erfordert.

Roman Ehrlich: Videotime | S. Fischer | 368 Seiten | 26 Euro | Erschienen im August 2024

Kategorie Blog, Rezensionen

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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