Während 2024 politisch eher von Hiobsbotschaften in Form von Wahlergebnissen und ansonsten Stagnation auf schlechtestem Niveau geprägt war, könnte es im Privaten kaum unterschiedlicher sein. Wir sagen »Tschüssi 2024!« mit unseren Highlights und ein paar anderen Einblicken in die kleine Pösi-Welt.
Politisch gab es 2024 mal wieder wenig Grund zum Jubeln. im Nahen Osten hat sich der Krieg zwischen Israel und der Hamas auf die Hisbollah und den Libanon sowie die Huthi im Jemen ausgeweitet, auch direkte Schläge gegen den Iran waren dabei, ein Ende scheint trotz substantieller Schwächung von Israels Gegnern mit der aktuellen Regierung kaum in Sicht. Auch in der Ukraine sieht es nicht gut aus, Russlands Verbündete schicken nach 1.000 Tagen des offenen Kriegs nun auch Truppen in die Region, während aus dem Westen immer schlechtere Signale für eine weitere Unterstützung kommen. Von der verheerenden Situation in den Bereichen Klima- und Umweltschutz brauche ich gar nicht erst anzufangen, war ja auch nur das erste Jahr, das offiziell und global die 1,5-Grad-Erwärmung gerissen hat.
Die Wahlen von 2024 lassen wenig Gutes für die kommenden Jahre vermuten. Rechtskonservative und Faschisten überall mit Siegen oder erschreckend hoher als Zünglein an der Waage in den ostdeutschen Bundesländern. Angesichts all dessen zählt das Zerbrechen der Ampel da schon eher zu den positiven Nachrichten, auch wenn die nächste Katastrophe bei der Bundestagswahl im Februar folgen könnte.
Schauen wir nach Berlin, sieht es auch düster aus. Die Stadt will sparen, das geht natürlich am einfachsten bei denen, die keine groß finanzierte Lobby haben. Kultur und Soziales stehen vor historischen Kürzungen, der Ausgang für viele Träger und Institutionen ist vollkommen ungewiss. Dass dabei still und heimlich auch die Verkehrswende hinten runterfällt und lediglich die Auto-Infrastruktur weiter großflächig gefördert wird, erscheint da schon fast nebensächlich.
Düster, düster, düster – man traut es sich fast gar nicht mehr zu sagen, aber wir hatten für uns persönlich ein ebenso krasses wie tolles 2024 und sind wie immer unglaublich dankbar dafür. Das erste komplette Jahr mit Kind ist vorbei, unzählige Windeln gewechselt, kleine Dramen durchlebt und Entwicklungsschübe abgehakt – und es könnte für uns kaum schöner sein. Das Leben zu dritt ist eine große Bereicherung, die zeitliche Aufteilung mit der neuen Care-Arbeit läuft durch starkes Teamwork auch. Will sagen: Wir könnten zerrissener kaum sein.
Unsere Lesehighlights 2024
Stefan
Für mich hat die Jury des Deutschen Buchpreis dieses Jahr sehr gute Arbeit geleistet, denn bei mir finden sich gleich drei Bücher der Shortlist unter den Highlights. Ganz vorne darf natürlich Martina Hefter mit ihrem Roman Hey guten Morgen, wie geht es dir? stehen, der mich mit seiner überaus guten Mischung von Leichtigkeit und Tiefgründigkeit begeistert hat. Es geht um das Altern, um Misogynie, Kunst und Armut, sowohl in einem deutschen als auch einem globalen Kontext. Das ist große Literatur.
Zwei andere Romane hatten es nicht so mit der Leichtigkeit, was aber auch kein Wunder angesichts des beiden gemeinsamen Hauptthemas ist: der Gewalt. Ronya Othmann schreibt in Vierundsiebzig über den 74. Ferman, den Völkermord an den Jesiden von 2014. Der Roman mischt dokumentarische und erzählende Teile und ist geprägt von dem Konflikt, in dem sich die Schreibende als im sicheren Deutschland lebende und kaum mit den jesidischen Traditionen vertraute Tochter eines Jesiden befindet.
Clemens Meyer thematisiert in Die Projektoren ebenfalls die Gewalt. Der Roman erzählt die Zeit vom Zweiten Weltkrieg bis in die Gegenwart zwischen Jugoslawien und Deutschland. Die Romane Karl Mays reichen dabei als Amalgam durch die Zeit, während das Personal die Geschichte erlebt. Besonders ist dabei auch die Sprache, die zwischen traditionellem Erzählen und Bewusstseinsstrom wechselt und immer wieder mit kuriosen Einfällen aufwartet.
Abseits des Buchpreis haben mich noch zwei weitere Romane begeistert, und zwar Die Frau mit den vier Armen von Jakob Nolte und Plasmatropfen von Joshua Groß. Beide sind auf ihre ganz eigene Weise schräg. Die Frau mit den vier Armen funktioniert ein wenig wie ein weirder Tatort, der die Grenzen des Krimi-Genres immer wieder lustvoll umschleicht und absurde Situationen en masse produziert.
Plasmatropfen lebt von seinen exzellent porträtierten Figuren und der Sprache, die die Gegenwart so treffend beschreibt wie kaum ein*e andere*r Autor*in das schafft. Dazu wird die Realität immer ein klein wenig gebogen, erweitert und verzerrt, doch nie um des bloßen Effekts willen – ein typischer Joshua Groß-Roman eben.
Im Sachbuch haben mich vier Titel besonders begeistert. Elternzeit sei Dank konnte ich mich an etwas größere Projekte heranwagen, bspw. an Gekränkte Freiheit von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey. Die Autor*innen entwerfen eine große soziologische Gesellschaftsanalyse, auf der dann die Untersuchung der autoritären Tendenzen unserer Gegenwart aufbaut. Unglaublich treffend und bereichernd, ein Standardwerk.
In die gleiche Kategorie fällt Steffen Maus kleine Studie Ungleich vereint zur Polarisierung zwischen deutschem Osten und Westen. Auf Grundlage der großen Studie Triggerpunkte nimmt Mau hier diesen isolierten Konflikt heraus und analysiert ihn mit soziologischer Präzision, aber auch biografischer Anteilnahme. Denn der Autor selbst stammt aus Rostock und lässt immer wieder eigene Erfahrungen einfließen, was den Titel am Ende so richtig rund macht.
Begeistert hat mich auch das populäre Sachbuch von Simon Sahner und Daniel Stähr, Die Sprache des Kapitalismus. Die beiden Autoren untersuchen darin die tiefe Verwurzelung des Kapitalismus in unserer Sprache und zeigen, wie sehr eine vermeintliche Eigendynamik der Märkte sich in der Alltagssprache festgesetzt hat und dazu führt, dass viele Entwicklungen nicht mehr hinterfragt werden, obwohl die Politik durchaus Spielräume hätte.
Und last, but not least schätze ich den Essay After Woke von Jens Balzer sehr als ausgeglichenen Kommentar zu den Auswirkungen des 7. Oktober 2023 auf die Kulturlandschaft in Deutschland und der westlichen Welt. Dabei verteidigt Balzer die unter dem Schlagwort »woke« versammelten Werte von Sensibilität gegenüber Diskriminierung und jeder Form von Gewalt gegen viele woke Protagonist*innen, die seit gut einem Jahr nun offen antisemitisch agieren.
Juliane
Mein Lesejahr 2024 war sehr durchwachsen. Durch laaaange Stillsessions noch zu Beginn des Jahres konnte ich nebenbei sehr viel lesen und vermisse diese Zeit manchmal – das Stillen aber eher nicht so. So kommt es auch, dass ich in der ersten Jahreshälfte recht viel und zum Glück auch viel Gutes gelesen habe.
Darunter mein absolutes Jahreshighlight Wo der spitzeste Zahn der Karawanken in den Himmel hinauf fletscht von Julia Jost, das mich sowohl sprachlich als auch durch seine wirklich gut geschriebene Kinderperspektive überzeugen konnte. Und da ich ja sowieso ein Faible habe für abgelegene, eigenbrötlerische Bergdörfer, passte das Setting auch noch wie die Faust aufs Auge.
Das formal spannendste Buch war in diesem Jahr für mich der Kollektivroman wir kommen, in dem 18 Autor*innen sich in einer Art Google Doc über Liebe, Sex, Begehren, Alter, Weiblichkeit und weitere Themen aus dem Feminismus-Spektrum austauschen. Das Label Roman würde ich dem Buch vielleicht nicht geben, aber ich habe es unheimlich gern gelesen und mich teilweise so gefühlt, als würde ich mit den 18 Schreibenden an einem Tisch sitzen und plaudern – literarisches Experiment geglückt.
Außerdem konnte ich in diesem Jahr meine Stefanie de Velasco-Sammlung um einen Roman erweitern. Mit Das Gras auf unserer Seite hat die Autorin ein Buch über drei Freundinnen in ihren Vierzigern und die Fragen, die sie sich in diesem Lebensabschnitt stellen, geschrieben. Es geht um die Wechseljahre, verpasste Chancen und die Lossagung von einem bestimmten Rollenbild. Ich kann wirklich alles von de Velasco empfehlen, so auch diesen Roman.
Und kurz vor Jahresende hat sich noch ein weiteres belletristisches Highlight auf diese Liste geschlichen: Kleine Monster von Jessica Lind. In ihrem zweiten Roman geht die Autorin der Frage nach, ob wir unsere Kinder je wirklich kennen können, und schreibt auf sehr pointierte Weise über Trauma, Mutterschaft und ein Kind, das einem nicht ganz geheuer ist.
Einige Sachbücher habe ich in diesem Jahr ebenfalls gelesen, und vielleicht verwundert es nicht, dass sich viele davon um das Thema Mutterschaft gedreht haben. Ganz besonders herausgestochen hat hier für mich der persönliche Essay Liebesmühe von Christina Wessely, in dem die Autorin der Frage nachgeht, ob eine Frau nach der Geburt des Kindes sofort schon Mutter ist oder erst noch eine wird. Einen so ehrlichen und liebevollen Text über die Anfangszeit mit Baby habe ich selten gelesen.
Auch das Thema Geburt kreist immer mal wieder in meinem Kopf herum, weil ich wohl nie wieder etwas so Krasses erleben werde wie diese erste Geburt. Umso spannender, aber auch schockierend fand ich die Lektüre von Lena Högemanns So wollte ich mein Kind nicht zur Welt bringen! In ihrem sehr detailreich recherchierten Sachbuch klärt die Autorin über Gewalt in der (klinischen) Geburtshilfe auf. Harter Tobak, aber so wichtig, darüber Bescheid zu wissen.
Und dann noch ein Buch, von dem ich vorher nicht wusste, dass es mir so viel Spaß machen würde: Nirvana. 100 Seiten von Isabella Caldart. Ich habe das Buch vor allem gelesen, weil wir mit Isi befreundet sind, und hatte als Nicht-Nirvana-Fan erstmal keine großen Erwartungen. Ich wurde dann aber so gut unterhalten, dass ich mich im Anschluss per Wikipedia noch ein bisschen weiter ins Thema gegraben habe. Ein Muss für Fans, und für alle Nicht-Fans trotzdem ein Hochgenuss.
Und sonst so?
Das erste Jahr mit Kind war natürlich eine Umstellung, aber für uns eine durchweg positive. Natürlich werden wir die Geburt und deren schmerzhafte Nachwehen, den Schlafentzug, die Verzweiflung bei endlosem Schreien und die zahllosen angekackten Bodys nicht vergessen – aber wie toll ist denn bitte dieses kleine Wesen! Wie großartig, jeden Tag zusammen zu verbringen, sich immer mehr kennenzulernen, jeden Entwicklungsschritt mitzuerleben. Einfach unglaublich. Unsere großzügig angelegte Elternzeit hat sich sehr bezahlt gemacht.
Neben vielen kleinen Reisen zu dritt war der Trip nach Sizilien ein besonderes Highlight. Die italienische Insel hat uns gleich mit ihrem Charme bezirzt und unsere Herzen im Sturm erobert. Wir konnten zwar nur einen kleinen Teil, nämlich den Südosten, bereisen, aber der war schon wirklich toll. Städte wie Siracusa, Noto, Modica, Ragusa und Scicli waren ebenso toll wie die vielen kleinen und großen Sehenswürdigkeiten in der Natur. Kulinarisch hat es uns neben Pizza und Pasta noch die Granita sehr angetan – einfach das perfekte Eis nach einer Wanderung. Am besten gefallen hat uns aber wohl unsere Unterkunft, ein uralter Bauernhof in den hybläischen Bergen. Es war keine Liebe auf den ersten Blick, aber dafür mit der Zeit eine immer innigere.
Außerdem tanzten wir in diesem Jahr auf gleich drei Hochzeiten. Feiern mit Freund*innen – was gibt es Schöneres? Und dann auch noch mit einem Baby, das zum Glück auch auswärts immer einen festen Schlaf hat.
Mit dem Blog durften wir auch in diesem Jahr den Ulrike Crespo Wortmeldungen Literaturpreis und Förderpreis begleiten – wie auch in den vergangenen Jahren eine schöne Kooperation, die uns mal wieder spannende neue Texte entdecken ließ. Und auch beim open mike waren wir wieder als Leitung der Blogredaktion am Start. Jetzt heißt es »Daumen drücken!«, dass der Wettbewerb für junge Literatur auch 2025 wieder stattfinden kann und nicht den Kürzungen in der Berliner Kultur zum Opfer fällt.
Zum Abschluss ein dickes Danke an euch, dass ihr nach mittlerweile zehn Jahren immer noch unsere Blogbeiträge verfolgt und hier mitlest. Gar nicht so leicht, mit einem klassischen Blog neben Instagram, TikTok & Co. zu bestehen. Aber wir machen weiter und freuen uns, wenn ihr dabei seid. Habt einen super Start ins neue Jahr. <3
„Ungleich vereint“ ist auch eins meiner Jahreshighlights.