Pankaj Mishra: Die Welt nach Gaza

Nord und Süd: Pankaj Mishra erklärt in Die Welt nach Gaza die verhärteten Fronten im aktuellen Konflikt und versucht, einen möglichen Ausweg aus den ideologischen Gräben aufzuzeigen.

Mishra, Die Welt nach Gaza, Cover

Seit dem 7. Oktober 2023 ticken nicht nur die Uhren in Israel und dem Gaza-Streifen anders. Durch den Terroranschlag der islamistischen Hamas mit über eintausend größtenteils zivilen israelischen Opfern und dem darauf folgenden Krieg der israelischen Armee gegen die Hamas mit über 40.000 Opfern ist nicht nur die Region des Mittleren Osten destabilisiert. Der Konflikt ist in der ganzen Welt zu spüren, auf den Straßen Berlins wird immer wieder gegen die israelischen Angriffe mit massiven zivilen Opfern protestiert, an Universitäten überall in der westlichen Welt bilden sich Protestcamps, Politiker im globalen Süden rufen plötzlich zum Boykott Israels oder Schlimmerem auf.

Nun ist der Konflikt nicht neu und in der Vergangenheit gab es immer wieder Eskalationen. Doch diesmal ist es eine neue Qualität, die vom größten antisemitischen Pogrom seit dem Holocaust auf der einen und dem längsten Krieg gegen die Palästinenser seit den 1960ern auf der anderen Seite eingeleitet wurde. Auf der ganzen Welt stehen sich zwei Lager gegenüber, die sich mit einigen Grautönen grob in den postkolonialen globalen Süden (und seine Unterstützer*innen im Norden) sowie den Israel unterstützenden globalen Norden, also die ehemaligen Kolonialstaaten, trennen lassen. Die Seiten stehen sich unvereinbar gegenüber und sehen vermeintlich komplett unterschiedliche Realitäten.

Der indisch-britische Autor Pankaj Mishra beschreibt und erklärt die Lage in Die Welt nach Gaza sehr detailliert. Dabei ist sein Zugang persönlich getrieben, da ihm beide Seiten – die jüdische wie die palästinensische – in seiner intellektuellen Biografie sehr ans Herz gewachsen sind. Er erklärt die unterschiedlichen Lager zunächst historisch und geistesgeschichtlich. Ein Kapitel beschäftigt sich mit der Geschichte Israels, vom Zionismus vor der Staatsgründung bis hin zur aktuellen Situation. Dabei stellt er vor allem die Tendenz heraus, dass seit den 1970er Jahren die Regierungen immer rechter wurden und der Umgang mit den Palästinensern dadurch politisch immer restriktiver.

Für die westliche Welt des globalen Nordens gilt ihm Deutschland als Musterbeispiel. Hier erklärt er vor allem, wie in der Nachkriegszeit – parallel zu Entwicklungen in Israel – die Erinnerung an den Holocaust immer weiter politisch instrumentalisiert wurde, um etwa die nicht erfolgte Entnazifizierung der BRD zu vertuschen, echte Reparationzahlungen zu vermeiden und die eigene Wiedergutwerdung voranzutreiben, um endlich wieder Nationalstolz zuzulassen. (Siehe auch die Bücher von Max Czollek). Das bringt einen Philosemitismus mit sich, der sich eng an den Staat Israel bindet, ohne die dortige Politik aber je wirklich in Augenschein zu nehmen oder gar offen zu kritisieren.

Auf der anderen Seite steht der globale Süden, dessen prägendstes Ereignis des 20. Jahrhunderts nicht der Holocaust, sondern die Dekolonisierung und die damit einhergehenden Erfahrungen, oft Bürgerkriege und Diktaturen, waren. Es liegt nahe, dass diese noch jungen Staaten mit den Palästinensern sympathisieren, die aus ihrer Sicht in einer ganz ähnlichen Lage sind. Außerdem dient die Sympathie nicht selten der Schärfung des eigenen Profils. Mishras prägendstes Beispiel dafür ist die BJP in Indien, die ihren Hindunationalismus mit immer schrilleren Tönen vorantreiben und dabei Israelhass gerade wie gerufen kommt.

Mishra erklärt die unterschiedlichen Narrative von Nord und Süd gut und größtenteils fair. Mir hat das Buch in dieser Hinsicht sehr geholfen, gerade seine gut balancierten Schilderungen der Geistesgeschichte des globalen Südens und der eigentlichen Grundlagen des Postkolonialismus haben das Feld für mich sehr vielschichtig und breit erklärt. Auch die Erklärungen zu Deutschland und Israel sind historisch passend und erklären die Verhärtungen der Gegenwart.

Allerdings finde ich es erstaunlich, dass das komplette Buch ohne Erwähnung des BDS auskommt, die gerade im globalen Süden, aber etwa auch unter Schwarzen in den USA sehr großen Einfluss auf die Verfestigung von Antisemitismus hatte. Außerdem bleibt Israel hier trotz aller Abstufungen vor allem ein Staat, der unterdrückt und diskriminiert, zitiert werden entweder Hardcore-Zionisten oder Anti-Zionisten, sodass eins verloren geht: die israelische Zivilgesellschaft. Die Bewegungen gegen die rechte Regierung und den Krieg finden keine Erwähnung. Weiterhin sind mir Mishras Quellen meist etwas zu einseitig aus dem intellektuellen Milieu, aber das ist am Ende auch einfach sein Stil.

Die Welt nach Gaza von Pankaj Mishra schafft es, den Konflikt zwischen Israel und den Palästinensern, zwischen globalem Norden und globalem Süden aufzudröseln und in einen breiten Kontext zu stellen. Die persönliche Note macht es dabei zugänglich und hat mir gerade die Seite des globalen Südens nähergebracht. Am Ende bleibt das Buch natürlich streitbar, aber bei dem Thema ist auch nichts anderes zu erwarten. Sein Vorschlag einer multiperspektivischen Betrachtung des Konflikts ist dabei ebenso naheliegend wie begrüßenswert, wird aber leider wenig ändern.

Pankaj Mishra: Die Welt nach Gaza | S. Fischer | Aus dem Englischen von Laura Su Bischoff | 304 Seiten | 25 Euro | Erschienen im Februar 2025

Kategorie Blog, Rezensionen, Sachbuch

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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