Scheinbar bin ich zu einem Leser von Liebesromanen geworden. Nach Thomas Meineckes Selbst lag gleich I Love Dick von Chris Kraus (Matthes & Seitz) auf dem Nachttisch. Der „erste große Liebesroman des 21. Jahrhunderts“, heißt es im Klappentext. 20 Jahre nach Erscheinen des amerikanischen Originals nun endlich auch auf Deutsch. Ich bin äußerst gespannt.
Chris Kraus und Sylvère Lotringer sind ein recht gewöhnliches Intellektuellenpaar in den USA der mittleren 1990er-Jahre. Sie, Ende 30, eine mäßig erfolgreiche, aber überaus belesene und avancierte Art-House-Filmemacherin; er, Mitte 50, ein überaus erfolgreicher und angesehener, aber zunehmend verbitterter Dozent für französische Philosophie. Ihre Ehe ist nicht unglücklich, aber eingefahren, Sex eine vage Erinnerung an frühere Zeiten.
Und dann kommt Dick. Bei einem gemeinsamen Abendessen lernt das in L.A. lebende Ehepaar Dick kennen. Er lebt weit draußen, in der Einsamkeit des Antelope Valley. Chris und Sylvère übernachten nach einem feucht-fröhlichen Abend bei Dick, am nächsten Tag ist er verschwunden. In einer Mischung aus Verwirrung und Glück fahren die beiden zurück nach Hause.
Doch Dick lässt sie nicht los. Unaufhörlich debattieren Chris und Sylvère über mögliche Gründe für sein Verschwinden und mögliche Auswege aus ihrer verfahrenen Situation. Verfahren vor allem deshalb, weil der Abend mit Dick an etwas in ihnen gerührt hat. Etwas, das schon lange verloren geglaubt war: Verliebtheit.
Bei Chris ist es ein typischer „Crush“: Sie ist ganz vernarrt in Dick, ohne dass es dafür einen wirklich triftigen Grund gäbe. In der Rücksicht werden seine Gesten jedoch immer eindeutiger, seine Blicke lasziver, fordernder. Bei Sylvère ist es nicht so sehr ein Crush als eine erregende Neugierde, die sowohl von Chris’ Verliebtheit als auch von Dicks Unverfügbarkeit immer weiter angefeuert wird.
Um die Situation in den Griff zu bekommen, die wiederentdeckten, ihre Beziehung aus ganz unerwarteter Richtung wieder anfeuernden Emotionen nicht einfach verpuffen zu lassen, schreiben sie Dick einen Brief. Und noch einen. Und noch einen. Aus dem gemeinsamen Hobby, dass die beiden wie verliebte Teenager im Bett oder auf dem Boden liegend stundenlang betreiben, wird schnell eine Obsession.
War Dick von Anfang an weniger eine echte Person als eine unbewusst herbeigesehnte Fantasie, die angeschmachtet wurde, so wird er für Chris mit der Zeit immer mehr zu einem idealen Ansprechpartner. Die Briefe geraten zu einem Tagebuch, in dem sie ihre Ängste und Sorgen, ihre Erfolge und Frustrationen aufschreiben und teilen kann. Nie zuvor war sie vorher dazu in der Lage.
„Lieber Dick“, schieb sie, „Ich glaube, auf eine Art habe ich dich getötet. Du wirst zu meinem Lieben Tagebuch …“
In I Love Dick erzählt die Autorin Chris Kraus von ihrer gleichnamigen Hauptfigur und Sylvère in auktorialer Erzählweise, in Briefen und anderen von den Hauptfiguren geschriebenen Texten. Die Briefe nehmen den größten Platz ein, doch am Ende werden sie zu einer Art Essay von Chris für Dick kompiliert.
Die Erzählpassagen sind für mich das absolute Paradebeispiel für zeitgenössisches US-amerikanisches Erzählen: kurz, knapp, klar, stilistisch schnörkellos und auf den Punkt. Hier ist kein Wort zu viel und jedes ein Treffer. Ein Kompliment an Kevin Vennemann ist hier wohl angebracht, der den Roman ins Deutsche übersetzt hat. Nüchtern und pointiert schaltet sich die Erzählstimme hier und da zwischen den Briefen ein und trifft meist pointiert den Nagel auf den Kopf:
Sylvère und Chris waren allein in Crestline und verbrachten den größten Teil der vergangenen Nacht (Sonntag) und dieses Morgens (Montag) damit, über Dicks Dreiminutenanruf zu sprechen. Warum zieht Sylvère das eigentlich alles überhaupt nur in Betracht? Möglich, dass Chris zum ersten Mal seit setztem Sommer wirklich lebendig und munter zu sein scheint, und weil Sylvère sie liebt, erträgt er es nicht, sie traurig zu sehen. Möglich, dass er mit seinem Buch über die Moderne und den Holocaust in einer Sackgasse gelandet ist, und dass es ihm davor graust, nächsten Monat an seine Lehrerstelle zurückkehren zu müssen. Möglich, dass er pervers ist.
Auch die Briefe sind glänzend geschrieben und ein Genuss zu lesen. Sie halten meist sehr gut die Waage zwischen dem Blick ins Innere der Schreibenden, den Hoffnungen, die sie auf Dick projiziert, und dem Blick zurück in die eigene Vergangenheit. Ich schreibe hier nur von „ihr“, da Chris’ Briefe bei weitem in der Überzahl sind, am Ende übernimmt sie komplett die Stimme des Romans. Sie reflektiert über ihr eigenes Leben, denkt jedoch auch darüber hinaus und kann so immer wieder die großen Linien feministischen Denkens, Schreibens und künstlerischen Schaffens in ihre Überlegungen miteinbeziehen.
Ein anderer Aspekt hat mich noch zum Nachdenken gebracht: I Love Dick ist das mittlerweile dritte autofiktionale Buch, das ich hier in den letzten sechs Monaten rezensiert habe. Die*Der Autor*in sind selbst die Protagonisten oder tauchen zumindest im Buch auf. Überhaupt scheinen gerade in den letzten Jahren vermehrt Autor*innen zunehmend das Mittel der Autofiktionalität zu benutzen. Ob dieser besondere Kitzel, dieses vieldeutige Spiel mit den Ebenen von Realität und Fiktion nur ein einfaches Mittel ist, um eine besondere Authentizität zu erzeugen? Verlangen wir Leser*innen nach mehr Authentizität, als traditionelle Fiktion sie herzustellen vermag? Oder haben die zahllosen Romane der letzten Jahrzehnte, die das Schreiben ihrer selbst oder das Schreiben an sich thematisierten, nun zugunsten autofiktionaler Werke ausgedient? Warten wir es ab.
Bei I Love Chris jedenfalls – das ganz nebenbei im Original bereits 1997 erschien – hat die autofiktionale Anlage für mich eine interessante Ebene hinzugefügt, die immer wieder fragen ließ, wie nah die Figur Chris Kraus nun wirklich an der Autorin Chris Kraus ist, wie nah die Figur Sylvère Lotringer an deren damaligen Ehemann Sylvère Lotringer? Immerhin ist der Text, sind vor allem die Briefe extrem intim, entblößend, ja wirklich teilweise erinnernd an die Tradition der Bekenntnisliteratur, auf die der Klappentext hinweist.
Fasziniert hat mich an I Love Chris aber vor allem die Mischung der verschiedenen Textsorten und deren tolle Sprache. Wie hier über Emotionen geschrieben wird, ist einfach klasse. Dass diese immer auch in einen größeren Rahmen gestellt werden, macht die Sache rund. Das Thema des Liebesromans wird hier ganz auf das Begehren einer Person reduziert, die davon ausgehend ihre komplette Identität hinterfragt.
Leider hält der Roman diese hohe Klasse aber nicht über die komplette Länge. Das letzte Drittel beginnt zwar sehr stark, lässt dann aber ebenso stark nach – das Ende war für mich leider etwas zäh. Nichtsdestotrotz ist I Love Dick ein Buch, das man so schnell nicht vergisst. Nach Selbst war dies der zweite Liebesroman in kurzer Zeit, der die Grenzen des Genres (wenn wir es denn so nennen wollen) auf ein komplett anderes Terrain verlegt.
Chris Kraus
I Love Dick
Matthes & Seitz Berlin
Erschienen 2017
ISBN: 978-3-95757-364-3
Du schreibst so schön, liebe Juliane! Eine spannende Story wie mir scheint. Ich bin sichtlich erstaunt, dass sich hinter DICK ein Name versteckt und nicht das männliche Geschlechtsorgan. Ich hab mir gedacht, dass das vielleicht ein Gegenstuck zu Untenrum Frei ist – auf eine gewisse Weise. Hat bestimmt durch den Titel ein Clickbait Effekt. Ich grüsse dich herzlich, Anaïs
Lieben Dank, Anaïs! Das Buch ist tatsächlich in mehreren Hinsichten ziemlich spannend. Um die Doppeldeutigkeit geht es im Inhalt nur insofern, als die Protagonistin heterosexuell und in ihrer Sexualität ziemlich sicher ist – mehr aber eigentlich auch nicht. Spaß bringt der Titel trotzdem, etwa wenn man das Buch im Zug liest und von anderen Passagieren blöd angeschaut wird.
Oh, und eins noch – hier schreibt Stefan, Julianes Mitstreiter bei Poesierausch, ich habe auch den Artikel geschrieben. Aber das nur nebenbei! 🙂
Liebe Grüße, Stefan
Oh das tut mir Leid, lieber Stefan! Da habe ich etwas zu ungenau geschaut und mich zu wenig erkundet. Vielen Dank für die Aufklärung 🙂
Aber gern!