Im fünften und bisher dicksten Band des Korbinian Verlags, Joshua Groß’ Erzählung FLAUSCHkontraste, tanzen digitale und analoge Welt einen Reigen vor den Augen des Protagonisten Frank Tur. Im anfänglichen Genuss zeigen sich bald Glitches, es ruckelt, pixelt – aber hat er die Virtual Reality-Brille überhaupt noch auf?
Frank Turs Tage beginnen immer wieder mit einem entspannenden Ritual. Nach dem Aufwachen – und nachdem sich etwaige Bettgefährt*innen getrollt haben – schaltet er seinen Beamer ein und sucht auf YouTube ein Video, das den Sonnenaufgang an einem Strand in Kalifornien zeigt. Womöglich mit Chill-Out-Vibes unterlegt. So lässt es sich aufwachen, die Weite der Welt im kleinen Nürnberger Schlafzimmer, ohne die Wärme des eigenen Betts missen zu müssen.
Leicht verpixelt schwappen sanfte Wellen über die weiße Wand. Frank wechselt in den HD-Modus. Anhand der Sonne kann Frank beobachten, wie sich die Erde dreht, obwohl er es nicht spürt, obwohl er es nicht begreifen kann. Obwohl er eine Projektion betrachtet. Und sein Bett dreht sich synchron mit, wenngleich es Frank vorkommt wie das Echo einer Drehung.
An produktive Arbeit ist nicht zu denken, der Winter liegt schwer auf Franks Gemüt. Auf einem Streifzug durch die Stadt trifft er eine Frau mit einer Einhornmaske. Sie rauchen bei ihr die Droge »Arung« und Frank spielt FLAUSCHkontraste auf ihrer VR-Brille. Mit einer Freundin der Frau mit Einhornmaske spielt er Federball in der virtuellen Realität. Irgendwann hat er genug, dämmert vom Arung weg. Als er aufwacht, hat die Einhornfrau auf dem Sofa geräuschlosen Sex mit einem Unbekannten. Kurz schaut Frank zu, dann geht er.
Zu einem Aufzugrennen. Er schleicht sich in ein großes Hotel, lässt die Fahrstühle gegeneinander antreten. Welcher wird zuerst oben sein, welcher wird durch unerwünschte Mitfahrer*innen aufgehalten? Die Twitter-Crowd tobt. Und zwei Tage später geht sein Anteil an den Wetteinnahmen auf seinem Konto ein. Wer die Wetten auf seine Rennen veranstaltet, ist ihm völlig unbekannt, er hatte nie Kontakt. Aber das Geld kommt zuverlässig ein paar Tage später. Immer.
Im Prinzip könnte also alles einfach sein, entspannt wie der kalifornische Sonnenaufgang. Doch etwas zieht an seinen Nerven. Bei Google Maps hat er einen Fluss gesehen, da, wo einmal einer gewesen sein soll, der jedoch nicht mehr angezeigt wird. Niemand kennt den Fluss, doch es gibt Hinweise in der historischen Literatur Nürnbergs. Mit einem Screenshot des Flusses bewaffnet macht er sich auf den Weg, die Realität mit dem Glitch zu konfrontieren. Wer wird wohl den längeren Atem haben?
Joshua Groß versucht sich in FLAUSCHkontraste daran, die mehrfachen Realitätsschichten, die unsere Gegenwart durch die verschiedensten miteinander verbundenen Geräte prägen, zusammen zu bringen. In einer Erzählung unterzubringen, die sich am magischen Staunen, am Als-Ob der dunklen Romantik ebenso bedient wie am wahnwitzigen Tanz der Zeichen bei Pynchon oder anderen Postmodernen. Er führt immer wieder Analoges und Digitales zusammen, lässt es unprätentiös miteinander agieren. Natürlich nicht ohne Ironie, nicht ohne eine gewisse Absurdität. Aber auch nicht auf eine Weise, die komplett realitätsfern wäre.
So fängt Joshua Groß in FLAUSCHkontraste, der ersten explizit so gelabelten Erzählung, mehr Welt ein als alle anderen Korbinian-Veröffentlichungen bis dato und führt sie gleichzeitig noch mehr an der Nase herum. Sei es die Avatar gewordene Frau mit der Einhornmaske, das harmlose Federballspielen in der höchsttechnisierten VR-Welt oder die Pixelfehler bei Google Maps, die die Realität herausfordern: Analoges und Digitales sind so tief ineinander verhakt, dass schwer zu sagen ist, wo das eine aufhört und das andere anfängt.
Leider traut die Erzählung uns Leser*innen nicht wirklich zu, die vielen im Text verarbeiteten theoretischen Bezüge selbst zu erkennen. Zu explizit, auch etwas zu plump für meinen Geschmack, legt er seine Grundlagen offen. In erster Linie Baudrillards Theorie der Simulation, die von Platons Höhle ausgehend die Existenz der »Realität« in Frage stellt und auch eine Grundlage des Kultfilms (oder wahlweise auch der »Dokumentation« – hallo Morgellon!) Matrix war. Aber auch Latours Hybridität von Natur und Kultur scheint auf, und natürlich Deleuze/Guattaris Mille Plateaux. Sprachlich konnte mich FLAUSCHkontraste auch nicht vollends überzeugen. Zu sprunghaft ist der Stil, zu aufdringlich der auktoriale Erzähler, zu heftig der Adjektiv-Beschuss. Insgesamt wirkt es stilistisch ein wenig unausgegoren.
Nichtsdestotrotz hat mich FLAUSCHkontraste mit seinem Mix aus Authentizität und Absurdität in den Bann gezogen. Als erste Korbinian-Veröffentlichung nach dem Manifest Ultraromantik hat die Erzählung für mich auch eindeutige Bezüge zum ultraromantischen Programm hergestellt. Um ganz an der Oberfläche zu bleiben, könnte man sagen, dass mit Frank Tur hier der Prototyp des romantischen Taugenichts in die Gegenwart überführt wird. Mit allen Gadgets, die dazugehören. Und mit einer schönen Ausstattung, die die Leser*innen am Ende noch einmal ganz kurz irre werden lässt. Allein das ist klasse!
FLAUSCHkontraste
Korbinian Verlag
112 Seiten | 12,– Euro
Erschienen im Dezember 2017