Robert Seethaler: Der letzte Satz

Ein neuer Seethaler! Da bin ich ja immer dabei. In Der letzte Satz (Hanser Berlin) wendet sich Robert Seethaler dem Dirigenten und Komponisten Gustav Mahler zu und begleitet seine letzten Tage auf einem Ozeandampfer.

Seethaler: Der letzte Satz

Totgeweiht auf dem großen Ozean. Gustav Mahler hat sein Schicksal akzeptiert und ergibt sich ihm. Er weiß, er wird bald sterben, so lässt er fast ein wenig widerwillig sein Leben Revue passieren, nur unterbrochen von kleinen Gesprächen mit dem Schiffsjungen, der ihn bedient und sich um ihn kümmert. Ein kauziger alter Mann tritt dabei zum Vorschein, der als Privatperson immer weit hinter seinem öffentlichen Bild zurückblieb, sich von diesem eingeengt und auch nicht verstanden fühlte – trotz aller teils riesigen Erfolge seines Lebens.

Da ist seine Ehe, die für ihn einen Ruheort darstellt, für seine Frau Alma jedoch immer mehr zu einem Gefängnis wird, in dem sie seinen Vorstellungen entsprechen und in diesen funktionieren muss. Als sie ihn verlässt, nur um dann doch wieder zurückzukehren, zerbricht sie innerlich. Auch eine Audienz bei Sigmund Freud kann Mahler nicht recht zu einem einfühlsameren Mann machen, der er durchaus auch privat lieber wäre. Aber da sind natürlich auch Arbeitsbeziehungen, öffentliche Auftritte und natürlich seine Engagements. Als Mann der Kunst ist ihm all dies ein Graus. Auch wegen seiner fragilen Gesundheit, körperlicher wie geistiger.

Er hatte sich nie gesund gefühlt. Es lag in der Familie: Von den dreizehn Geschwistern starben sechs im frühen Kindesalter, insofern konnte man das Kind Gustav schon als Überlebenden bezeichnen. Seit seiner Schulzeit litt er unter Migräne, Schlaflosigkeit, Schwindelanfällen, entzündeten Mandeln, schmerzenden Hämorrhoiden, einem gereizten Magen, einem unruhigen Herzen. Er biss auf den Innenseiten seiner Wangen herum, bis sie bluteten, er fuchtelte mit den Händen und stampfte beim Dirigieren, bisweilen auch während des Stehens oder Gehens, unkontrolliert mit dem Fuß auf den Boden. Manchmal, wenn er mit geschlossenen Augen im Bett lag, ließen ihn seine überreizten Glieder nicht zur Ruhe kommen, dann stand er wieder auf und begann in der Dunkelheit hin und her zu gehen.

Die Rückschau mit Schiffsjungen gibt Mahler die Möglichkeit zur Milde, da er dessen Naivität spürt und sie ihn berührt. Er lässt eine Milde walten, die zwar nicht besonders groß ist, für ihn jedoch einen großen Schritt darstellt. Es wäre zu viel gesagt, dass sich Mahler hier mit seinem Leben versöhnen würde. Dazu bleibt er zu stur und uneinsichtig, zu festgefahren. Doch die Rückschau bringt ihn sich selbst und seinen nicht immer richtigen oder guten Entscheidungen, gerade im Privaten, doch ein wenig näher.

Der letzte Satz ist der wohl letzte Roman der unausgesprochenen Tetralogie aus Der Trafikant, Ein ganzes Leben, Das Feld und nun eben Der letzte Satz. Die Mehrdeutigkeit des Titels wird so von Musik und Sprache noch um ein drittes Level erweitert, die Werkebene. Wenn wir das polyphone Feld mal ausnehmen, geht es immer um Männer, die auf bestimmte Lebensabschnitte zurückblicken. Coming-of-Age im Trafikant, eine komplette Biographie im ganzen Leben, und nun die Konzentration auf den Lebensabend mit sehr kursorischer Rückschau im letzten Satz. Die Bücher sind jeweils von ihrer Zeit gefärbt, ohne diese jedoch wie ein Panorama zu eröffnen. Die Personen und ihr Schicksal vermitteln vielmehr die Zeitgeschichte, große, pathetische Zeitbilder sind Seethalers Prosa fremd.

Der letzte Satz bleibt diesem Muster treu und schafft es doch nicht, an die Vorgänger heranzukommen. Das liegt in keinem Fall an der Sprache. Die ist Seethaler-typisch einfach, konzentriert und in dieser Konzentration höchst aufgeladen. In den starken Passagen liest sich der Roman sehr dicht, kein Wort ist zu viel. Gerade am Beginn stellte sich gleich wieder dieses Seethaler-Feeling ein, das erstmal durch Melancholie und diesen Sound geprägt ist.

Doch je mehr die Geschichte vorangeht, desto mehr stellt sich auch eine gewisse Ernüchterung ein. Denn auch wenn die letzten beiden Romane keine dicken Brecher waren, hatten sie doch bedeutend mehr Inhalt und nahmen sich damit mehr Raum, ihre Personen differenziert darzustellen, als Der letzte Satz Mahler gewährt. Ich kenne mich zu wenig bis gar nicht mit dem historischen Mahler aus, als dass ich hier über die Korrektheit des Bildes im Buch etwas sagen könnte. Aber auf literarischer Ebene bleibt Mahler vor allem als sich chronisch missverstanden fühlender Alleingänger stehen. Andere Konfliktlinien, wie etwa sein Judentum, seine radikale musikalische Überzeugung hin zur Moderne oder seine Familiengeschichte werden zwar angerissen, aber nicht verhandelt.

Damit bleibt am Ende ein zwiegespaltenes Bild, das sich für mich am ehesten so formulieren lässt: Der letzte Satz ist innerhalb der überaus starken Tetralogie der letzte und schwächste Roman, der von Seethalers Sound unnachahmlich geprägt ist, inhaltlich aber hinter den anderen Büchern zurückbleibt, ohne dabei grobe Fehler zu machen. Er scheint lediglich zu dünn, zu kurz, zu undifferenziert, um seiner Figur ganz gerecht zu werden. Ich freue mich auf Seethalers nächste Buchprojekte. Hoffentlich dann wieder in etwas größerer Form.

Robert Seethaler

Der letzte Satz

Hanser Berlin

128 Seiten | 19 Euro

Erschienen am 3.8.2020

Kategorie Blog, Rezensionen
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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