[class] #5 mit Bettina Andrae, Elisa Aseva und Senthuran Varatharajah

Zum letzten Mal im großen Pandemiejahr 2020 ist die Klassengesellschaft Thema im Berliner ACUD macht neu. Diesmal wieder ohne Publikum, wir sind also in mindestens einem Aspekt wieder ziemlich zurück beim Anfang. Gelesen und diskutiert haben diesmal Bettina Andrae, Elisa Aseva und Senthuran Varatharajah.

Ganz stimmt es natürlich nicht, dass wir mit der fünften und letzten Ausgabe von Let’s talk about class in 2020 wieder ganz am Anfang sind. Fast wäre mir tatsächlich entfallen, dass die erste Ausgabe im Februar mit eng beieinander sitzendem Publikum stattfand. Das ACUD war voll, der Tisch mit den Diskussionteilnehmer*innen stand mittig im Raum. Dann kam der erste, komplette Lockdown, dann die langsame Rückkehr des Publikums im Sommer, nun wieder der Teil-Lockdown mit dem Abschied des Publikums.

Aber sei es drum, wichtig sind die Themen. Bei diesem letzten Termin in 2020 ging es nun via Stream weiter um das deutsche Klassensystem. Diesmal standen bei Bettina Andrae zunächst Klassismus als gesetzlich festgehaltene Diskriminierungsform sowie Klassenzusammenhänge in der Politik allgemein zur Debatte. Danach wendete sich die Diskussion den Migrationsgeschichten und deren klassistischen Implikationen von Senthuran Varatharajah und Elisa Aseva zu.

Bettina Andrae startet zur Abwechslung einmal nicht mit fiktionaler oder biografischer Prosa sondern mit einem Antrag. Da sie in Ostdeutschland sozialisiert wurde, war ihr Klasse lange Zeit kein zentraler Begriff, da er durch die Staatspropaganda allgegenwärtig und leer war. Im Westen war sie dann zunächst als Literatin auf Lesebühnen und dann am Deutschen Literaturinstitut Leipzig unterwegs, wo ihr der Zusammenhang von Klasse und Lebensweg immer bewusster wurde. So kam sie zur Politik.

Nun also der Antrag: Auf allen politischen Ebenen hat sie ihn mittlerweile eingebracht, kurz gesagt möchte sie damit Klassismus neben den bereits vorhandenen Aspekten von Geschlecht, ethnischer Herkunft, Religion/Weltanschauung, Behinderung, Alter und sexueller Orientierung/Identität im Antidiskriminierungsgesetz verankern. Dadurch wären Personen aus der Unterklasse etwa auch vor einer Diskriminierung bei der Arbeits- oder Wohnungssuche geschützt.

Durch ihre Aktivität in der SPD fiel ihr ganz nebenbei aber auch noch etwas ganz anderes auf: Was einmal als Arbeiter*innenpartei begann und immer noch den Anspruch hat, Arbeiter*innen zumindest explizit mitzuvertreten, ist in keiner Weise repräsentativ aufgestellt. Die SPD ist – wie die meisten Parteien in Deutschland – auf praktisch allen Ebenen mit Akademiker*innen besetzt, Arbeiter*innen sind absolute Ausnahmen. Und das noch mehr, wenn man den Blick von der Basis in Richtung Ämter lenkt.

Senthuran Varatharajah lenkt den Blick dann vor allem auf die Migrationsgeschichte seiner Familie und die daraus erwachsenden Imperative für seinen eigenen Weg. Er kam mit seinen Eltern als kleiner Junge nach Deutschland, sie flohen vor dem Bürgerkrieg in Sri Lanka. Schon in der eigenen Familie war er Klassenunterschiede gewohnt, da seine Mutter Akademikerin war, sein Vater aber ein Dalit, grob gesagt ein Kastenloser, Unberührbarer im hinduistischen Kastensystem. Als Geflüchtete in Deutschland spielte das dann keine Rolle mehr, denn hier waren sie Teil der »Anderen«, und damit eingegliedert an unterste Stelle im Klassensystem.

Sein eigener Lebensweg führte dann nach einer Phase der Rebellion als Jugendlicher zum Erfolg im Sinne eines Aufstiegs. Sein Roman Vor der Zunahme der Zeichen ist enorm erfolgreich und ermöglichte ihm etwa auch Poetikdozenturen und andere öffentliche Auftritte, die meilenweit von der Lebenswirklichkeit seiner Eltern und Verwandten entfernt sind. Damit verbunden ist allerdings auch ein ständiges Gefühl der Schuld auf der einen Seite, wie auch eine Distanz zum eigenen Erfolg, der immer dadurch abgewertet wird, dass er vorgeschrieben war: Für die Eltern kam nie etwas anderes in Frage. Das macht ihn zu einer seltsam emotionslosen Pflicht, die sich kaum genießen lässt.

Abschließend liest er einen aktuellen Text, den er auf Instagram veröffentlicht hat. Eine ätzende Abrechnung mit dem bürgerlichen Journalismus, der es kaum schafft, von einer eigenen Lebenswirklichkeit zu abstrahieren und andere als gutbürgerliche Lebensumstände in das Konzept lebensweltlicher Normalität mitaufzunehmen. Eine starke Brücke auch zu Bettina Andraes Anliegen, klassistische Diskriminierung gesellschaftlich stärker zu verankern.

Elisa Aseva knüpft gleich in mehreren Aspekten bei Senthuran Varatharajah an. So startet sie mit kleinen Facebook-Texten, die sie bekannt gemacht haben und sich meist um ihre ganz persönliche Situation drehen, diese aber ins Größere wenden. Zumeist gehen sie von ihr als ungelernter Hilfsarbeiterin aus, von Momenten der Erschöpfung, die ihr ungeschminkte Betrachtung der klassisitischen Diskrimierung eröffnen.

Auch bei ihr spielt die Migrationsgeschichte ihrer Familie eine entscheidende Rolle, doch ist ihr persönlicher Weg ein ganz anderer als bei Varatharajah. Ihre Mutter kam mit ihr aus Äthiopien nach Deutschland. Der Imperativ des Erfolgs war der selbe, doch verweigerte sie sich ihm. Sie schlug sich durch, fast so, wie ihre Mutter es vor ihr gemacht hatte.

Drei Frauen spielten in ihrer Jugend eine übergeordnete Rolle, die sie dabei bis heute prägen. Zunächst natürlich ihre Mutter, die sich schwer tuberkulosekrank mit den Kindern bis nach Deutschland durchschlug und damit wohl das gemeinsame Überleben rettete. Dann ihre erste Lehrerin auf einer Klosterschule, eine junge Nonne, die aus einfachsten Verhältnissen kam und mit Zuversicht und unbedingter Unterstützung hinter Aseva stand. Dazu kam dann noch ihre Großmutter, eine Holocaustüberlebende. Eine starke Trias, die unterschiedlicher kaum sein könnte, sich aber im Moment des Widerstands gegen das etablierte System auf ihre je eigene Weise treffen.

Das war sie also, die fünfte und letzte class-Ausgabe für 2020. Wir sind mehr als gespannt, ob und wie es in 2021 weiter geht. Klar geworden ist in diesem Jahr in jedem Fall eins: Es wird immer noch viel zu wenig über Klassenzusammenhänge in Deutschland gesprochen. Der Klassenkrampf ist noch lange nicht gelöst, daher hoffen wir sehr auf eine Fortsetzung.


Der Stream der fünften Ausgabe kann hier nochmal angesehen werden:

Kategorie Blog, class

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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