Still und heimlich hat Matthes & Seitz mit punctum eine neue Essay-Reihe aufgebaut, die bislang ziemlich unter dem Radar blieb – trotz ausnehmend hübscher Gestaltung und sehr guter Themen. Schluss damit! Gleich drei hochkarätige Bände habe ich gelesen und wurde nicht enttäuscht.
Unsere Wirklichkeit wird immer fragmentarischer. Zumindest drängt sich der Eindruck auf, wenn im Extrem etwa Rechte oder Verschwörungsgläubige in einer Welt zu leben scheinen, die den meisten anderen Menschen vollkommen fremd ist und die sich allein aus kruden Foren, Webseiten und Social-Media-Beiträgen speist. Doch auch bei viel weniger extremen Beispielen gehen die Meinungen über den Zustand der Welt deutlich auseinander, was die Kommunikation zwischen den Polen erschwert.
Mit punctum wendet sich Matthes & Seitz diesem Phänomen schon seit 2017 zu. Schande auf mein Haupt, dass ich die Bändchen erst jetzt für mich entdeckt habe. In den Essays und Reportagen soll der subjektive Blick der Autor*innen klar zur Geltung kommen und einen Ausschnitt aus unserer Welt zeigen. Diese Diskussionsbeiträge können Sichten eröffnen, die zuvor fremd waren. Rekurrierend auf Roland Barthes’ »punctum« schauen wir durch das kleine Loch in der Broschur auf Fotografien als Ausschnitte unserer Welt, auf ein kleines Stückchen einer bestimmten Wahrheit. Auch wenn es nicht mehr immer um Fotografien geht – absolut empfehlenswert.
Nora Amin: Weiblichkeit im Aufbruch
Nora Amin schreibt über die 2011er Revolution in Ägypten, die Teil des Arabischen Frühlings war. Sie schreibt über die Hoffnungen, den Aufbruch, die die ersten Monate nach der Revolution prägten. Wie gerade Frauen, die zuvor unter einem extrem starken patriarchalen System litten, plötzlich Freiheiten spürten, die früher kaum vorstellbar waren und sich diese auch nahmen. Und sie erzählt von der unglaublichen Enttäuschung, die den konservativen Backlash schon kurze Zeit nach der Revolution begleitet. Die Muslimbruderschaft wird in die Regierung gewählt, das Patriarchat wurde vertrieben, nur um in anderer Gestalt wiedergewählt zu werden.
Und doch bleibt eine Hoffnung. Nora Amin unterstreicht sie, indem sie die Funktionsweisen des ägyptischen Patriarchats essayistisch seziert und die Veränderungen in den verschiedenen Stadien von Revolution und Konterrevolution unterstreicht. Großes Symbol für den Kampf der ägyptischen Frauen um Selbstbestimmung und Freiheit ist dabei der Tahrir-Platz in Kairo, der sein Bild im Lichte der herrschenden Klasse und ihrer Agenda immer wieder ändert. Freudentränen der erfolgreichen Revolution und Massenvergewaltigungen zur Re-Etablierung des Patriarchats geben sich auf bedrückende Weise die Klinke in die Hand. Ein beeindruckender Blick auf Ägypten und dessen weibliche Seite, die beständig um den Ausbruch aus dem Patriarchat kämpft.
Nora Amin: Weiblichkeit im Aufbruch | Band 6 | 124 Seiten | 14 Euro | 2018
Emmanuel Carrère: Julies Leben
Matthes & Seitz-Hausautor Emmanuel Carrère wendet den Blick in Julies Leben ins San Francisco der 1990er Jahre. In einem kurzen, aber höchst eindrucksvollen Doppelportrait zeigt er die Fotografin Darcy Padilla und Julie, eine junge Mutter in Tenderloin, dem Armenhaus der florierenden Stadt. Die Beziehung der hoffnungsvollen Journalistin zur 19-jährigen Julie, HIV-positiv, drogensüchtig, aus härtesten Verhältnissen und ohne jede Perspektive, ist ein anrührendes Beispiel für den seltenen Kontakt in einer harten Klassengesellschaft. Und es gibt trotz aller Härte auch zumindest ein klein wenig Hoffnung auf ein besseres Zusammenleben, irgendwann.
Die Fotos von Darcy Padilla sind das große Highlight des kleinen Bandes. Sie zeigen eine Intimität und Zärtlichkeit, die den Ärmsten der Armen gerne abgesprochen wird, gerade wenn Sucht als Thema noch hinzukommt. Sie bieten einen beeindruckenden Einblick in eine fremde Welt, der in Erinnerung bleibt.
Emmanuel Carrère: Julies Leben | Band 16 | 59 Seiten | 10 Euro | 2020
Linda Tutmann: African Dream
Abschließend geht es mit Linda Tutmann und ihrer Reportage African Dream nach Südafrika. Anekdotisch schildert die deutsche Journalistin einen längeren Aufenthalt in dem zerrissenen Land. Nach der Machtübernahme Nelson Mandelas und dem Ende des Apartheidsregimes war die Hoffnung der schwarzen Bevölkerung riesig, dass sich die Verhältnisse verbessern. Also von knapp 90 Prozent der Menschen in Südafrika. Doch sie wurden zu großen Teilen enttäuscht. Denn auch wenn vieles sich verbesserte – die Grundsituation, dass Schwarze in den Townships außerhalb der großen Städte teilweise ohne Strom und fließendes Wasser leben, ist geblieben. In den Großstädten setzt zudem wie in Europa und den USA die Verdrängung durch Gentrifizierung ein. Kein gutes Omen für die kommenden Jahre.
Die Schilderungen von Linda Tutmann sind sehr persönlich und anekdotisch. Sie setzt bei persönlich erlebten Situationen an, um von dort auf ein Größeres zu kommen und dann wieder ins Kleine zurück. Das ist gut gemacht, war mir in seiner Dramaturgie aber doch etwas zu sehr hingetupft. So springt die Reportage von der Unterdrückung der Schwarzen Bevölkerung zur Angst der weißen Afrikaaner, von deren Geschichte zur Einwanderungspolitik Südafrikas in den letzten zwanzig Jahren, zur Kriminalität, zu einem Gespräch mit Achille Mbembe. Alles nicht schlecht, aber auch immer irgendwie beliebig. African Dream schafft es aber, Lust auf eine tiefergehende Auseinandersetzung mit Südafrika zu machen, und das ist die Hauptsache.
Linda Tutmann: African Dream | Band 11 | 120 Seiten | 15 Euro | 2019