Hanau und Halle waren nur die Spitze des Eisbergs: Ahmad Mansour schreibt in Solidarisch sein! (S. Fischer) gegen das Schwinden des gesellschaftlichen Zusammenhalts in Deutschland an. Genauso kontrovers wie notwendig.
Die Anschläge von Halle und Hanau waren jeder für sich ein Schock. Angetrieben von der Anti-Islam-Propaganda der Pegida-Bewegung erschießt Tobias Rathjen am 19. Februar 2020 in Hanau neun junge Erwachsene in zwei Shisha-Bars, später dann seine Mutter und sich selbst. In Halle versucht Stephan B. am 9. Oktober 2019 schwerbewaffnet in die Synagoge einzudringen. Als dies fehlschlägt, erschießt er wahllos zwei Personen und verletzt zwei weitere.
Beide Anschläge vereinen einsame, isolierte Täter, die sich über Internetforen und ähnliche Kanäle so weit radikalisieren, dass sie wie Stephan B. selbst im Gerichtsprozess noch die jüdische Weltverschwörung am Werk sehen. Mit verschmitztem Lächeln versucht er, den jüdischen Nebenkläger*innen Informationen über die Weltverschwörung zu entlocken. Das ist ebenso absurd wie bezeichnend für rassistische und antisemitische Einzeltäter, wie auch das Beispiel von Anders Breivik zeigt.
In einem nicht unwesentlichen Punkt gehen die beiden Anschläge aber weit auseinander: in der Art des Gedenkens. Während der Anschlag in Halle breit rezipiert wird und offizielle Gedenkveranstaltungen an höchsten Stellen erfährt, bleibt der rassistische Anschlag von Hanau im Nachgang eher unbehandelt, ein Gedenken von höheren Stellen fehlt weitgehend. Der Vergleich zum islamistischen Anschlag vom Breitenbachplatz 2016 ist eklatant. Die Frage drängt sich auf, wie die Geringschätzung des Anschlags in Hanau zu bewerten ist.
Ahmad Mansour setzt in Solidarisch sein! genau an diesem Moment an, bei der Nachricht vom Anschlag in Hanau. Er stellt seine darauffolgende Arbeit mit migrantisch geprägten Jugendlichen dar. Kein Wunder, dass sie sich danach marginalisierter als je zuvor fühlen: Neun junge Erwachsene wie sie werden ermordet, und schon nach wenigen Tagen interessiert es kaum noch jemanden. Von dieser Erfahrung ausgehend entwirft Mansour ein Programm, das der fehlenden gesamtgesellschaftlichen Solidarität wieder auf die Sprünge helfen soll. Denn genau die ist es, die er als Knackpunkt ausgemacht hat.
Ich träume von einer Gesellschaft, die Konflikte friedlich löst, sachlich und differenziert debattiert und die wichtigsten Themen tabufrei diskutiert, lösungsorientiert und im Geiste des Grundgesetzes. Demokratie lebt nicht davon, dass die Mitte schweigt, sondern dass dort alle bereit sind zur offenen Diskussion, zur konstruktiven Streitkultur mit Argumenten und Gegenargumenten, zu gegenseitiger Auerkennung und Flexibilität im Denken.
Rassismus, Antisemitismus, gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit und Hass im Allgemeinen verstellen diesen Prozess der Gemeinschaftsbildung. Er allein kann für Mansour den gesamtgesellschaftlichen Zusammenhalt wiederherstellen und Solidarität über eine breit geführte Debatte herbeiführen, in der alle Gruppen der Gesellschaft in gleichem Maße mitsprechen dürfen. Sieben konkrete Vorschläge gibt er dazu mit, die helfen sollen, den Prozess in Gang zu setzen. Sie reichen von der Stärkung der Empathie in der Bildung bis zur Etablierung einer offeneren Debattenkultur.
Mansour bezieht sich damit auf die Losung, die auch schon in den 1990er-Jahren etwa der Kommunitarismus vorgeschlagen hat, um die müden Demokratien des Westens wiederzubeleben. Auch damals waren Rassismus, Zuwanderung und Radikalisierung Probleme. Solidarisch sein! bringt die Thesen wieder aufs Tableau, verknüpft sie mit aktuellen Ereignissen und eigenen Erfahrungen, die Ahmad Mansour nicht zuletzt durch seine früheren, überaus kontroversen Bücher zur deutschen Einwanderungsgesellschaft gemacht hat. Das macht die schmale Streitschrift sehr gut lesbar und verständlich.
Natürlich gibt es auch Raum für Kritik: So ist Mansours sehr universelle und unhistorische Definition von Rassismus sehr umstritten, ebenso seine Definition von Antisemitismus und auch seine Art, Menschen mit Migrationsgeschichte zu kritisieren. Aber das macht den Titel nicht unlesbar, ganz im Gegenteil: Es eröffnet den Raum zur Diskussion, und genau um den geht es Ahmad Mansour in Solidarisch sein! schließlich.
Ahmad Mansour
Solidarisch sein!
Gegen Rassismus, Antisemitismus und Hass
S. Fischer
128 Seiten | 12 Euro
Erschienen am 7.10.2020