Ling Ma: New York Ghost

Pilz statt Aerosol: In New York Ghost beschreibt Ling Ma eine bekannt erscheinende Pandemie, die in Endzeitstimmung mündet. Doch das ist zum Glück nicht das einzige Thema des Romans.

Wer erinnert sich noch an die Debatten von 2020, in denen es darum ging, ob, und wenn ja, wie das Corona-Virus und die immer noch aktuelle Pandemie die Literatur beeinflussen wird? Auch, ob sie in der Literatur Platz finden würde, wurde mal gefragt. Was schon damals irgendwie absurd war – Literatur ist wie ein Seismograph des Weltgeschehens, alles schlägt sich früher oder später nieder –, ist nun endgültig durch: Die Corona-Romane, -Sach- und -Tagebücher sprießen wie Pilze aus dem Boden. Mal besser, mal schlechter – wie es eben so ist.

Pilze sind ein gutes Stichwort, wenn wir auf den Roman New York Ghost von Ling Ma schauen. Er spielt wenig überraschend größtenteils in New York und beschreibt den Weg der Ich-Erzählerin Candace. Sie erlebt, wie eine weltweite Pandemie ausbricht, die mit ihrem ersten Ausbruch in China und dem Überschwappen auf die ganze Welt frappierend an Corona erinnert. Es gibt jedoch auch klare Unterschiede: Denn hier handelt es sich um das sogenannte Shen-Fieber, das von Pilzsporen ausgelöst wird und nicht heilbar ist. Die Infizierten sind dazu verdammt, bewusstlos gefangen in den immer gleichen Routinen ihres vorherigen Lebens dahinzuvegetieren, bis sie schließlich verhungern.

New York Ghost gliedert sich in drei Stränge: In der Gegenwartshandlung verfolgen wir Candace, die sich einer Gruppe Überlebender anschließt, um aus dem ausgestorbenen New York zu flüchten und in der Nähe von Chicago Zuflucht zu suchen. Im mittleren Vergangenheitsstrang erzählt sie ihr Leben als junge Erwachsene, vom Berufseinstieg und ihrer Beziehung zu Jonathan bis zur Flucht aus New York. Der dritte, frühere Vergangenheitsstrang beschäftigt sich mit ihren Eltern, die aus China in die USA ausgewandert sind, um ein besseres Leben zu finden, doch auf viele unerwartete Widerstände treffen.

Der Roman verbindet mit den ineinander laufenden Handlungssträngen Themen wie Herkunft, Migration, Rassismus mit dem Ankommen in einer anderen Kultur (die Eltern). Dann Coming-of-Age, Beziehungen, Nachwuchs, Einstieg in die Arbeitswelt und die damit einhergehende Veränderung des eigenen Lebens sowie Kapitalismuskritik im mittleren Strang. Und schließlich Pandemie-Erfahrung und apokalyptische Dystopie im Gegenwartsstrang. Die Stränge sind gut ineinander verschachtelt und laufen jeweils recht genau auf den Anfang des zeitlich nächsten zu, sodass sich am Ende ein kohärentes Bild ergibt und Spannung gegeben ist. Sprachlich und stilistisch ist New York Ghost nicht herausragend, aber gut gemacht und übersetzt.

Insgesamt ist der Gegenwartsstrang mit Abstand der schwächste im Buch. Es ist eine Zombie-Apokalypse light, mit Zombies, die keinerlei Gefahr darstellen und anscheinend auch nicht wirklich ansteckend sind. Der Plot ist ansonsten einfach aus den ersten Büchern bzw. Staffeln von The Walking Dead kopiert. Wer die Comics oder die Serie kennt, kann nur gähnen. Für alle anderen ist es wohl nicht ganz so schlimm, aber das Szenario ist so oder so schon ordentlich abgegrast. Da hilft auch der Bezug zur derzeitigen Corona-Situation wenig, auch wenn immer mal wieder nette Kommentare zur Pandemie-Erfahrung drin sind.

Ich wusste nicht, was ich tun sollte, also schob ich die Sache in den hintersten Winkel meines Gehirns. Ich ging schlafen. Dann stand ich auf. Ich ging morgens zur Arbeit. Ich ging abends nach Hause. Ich wiederholte die Routine.

Immerhin bildet die Art, wie das Shen-Fieber die Menschen zu willenlosen Duracell-Häschen macht, einen netten Metakommentar zum mittleren Strang, in dem die durchkapitalisierte, -prekarisierte und -gentrifizierte amerikanische Arbeits- und Lebenswelt schonungslos dargestellt wird. Nimmt man den Eltern-Strang hinzu, zeichnet New York Ghost ein vielschichtiges Bild der amerikanischen Gesellschaft aus der Sicht einer jungen Frau, deren Eltern aus China ins Land kamen. Sie wuchs auf in der Spannung zwischen dem unbedingten Anpassungs- und Erfolgsdruck der Eltern und den für diese vollkommen unverständlichen Freiheiten, die die USA gleichzeitig bieten und Candace von ihren Freund:innen und Mitschüler:innen vorgelebt werden.

New York Ghost bietet angenehme Unterhaltung mit mannigfaltigen Themen, die gut verhandelt werden. Gerade der Komplex um Migration, Herkunft und Assimilation ist sehr schön umgesetzt. Die Pandemie-Apokalypse enttäuscht dagegen mit seinem beliebigen und komplett vorhersehbaren Plot, auch wenn immer wieder nette Details herausstechen können.

Ling Ma

New York Ghost

Culturbooks

260 Seiten | 23 Euro

Erschienen am 23.3.2021

Kategorie Blog, Indiebooks, Rezensionen
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

2 Kommentare

  1. mE ruiniert der „Zombie“-Plot auch viel von dem, was aus den Rückblenden vll hätte werden können, wenn die Autorin sich literarisch darauf ernsthafter eingelassen hätte. Die Zombie-Geschichte ist nunmal der Aufhänger, und von dort aus betrachtet wirken die Erinnerungen forciert… außerdem soll auf einer metaphorischen Ebene ja wohl eine Art Linie bestehen, und kein Bruch, zwischen dem sich anschmiegen an Zombie-Existenzen vor und nach der Pandemie… Auch das funktioniert nich gut, weil halt das Zombie-Zentrum ziemlich schwach ist.

    • Kann ich komplett verstehen. Ich finde es zwar nicht ganz so dramatisch, aber dass gerade der Aufhänger so eine schwache und vorhersehbare Kopie ist, war schon eine Enttäuschung. Die kapitalismuskritische metaphorische Ebene ist ja eigentlich Zombie-Standard seit den Urtagen des Genres, da kann man wohl auch nicht mehr zu viel Neues erwarten. Aber wie geschrieben, die Vergangenheitsplots über Einwanderung, Rassismus und Gentrifizierung fand ich schon gut.

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