Aus Berlin nach Hildesheim: In Unsere anarchistischen Herzen erzählt Lisa Krusche von zwei jungen Frauen in der Kleinstadt und ihren Kämpfe mit der Elterngeneration und sich selbst. Und das auf überaus erfrischende Weise.
Charles und Gwen sind sich so gar nicht ähnlich. Dass beide sich eines Sommers in Hildesheim wiederfinden, ist schon mal ein großer Zufall. Dass sie sich dann auch noch in einem Kiosk über den Weg laufen und Freundinnen werden, nicht weniger. Und doch ist das genau solch ein Zufall, wie ihn das Leben eben schreibt. Aus diesem Drive des zufälligen Zusammengeworfenwerdens ergibt sich in Lisa Krusches Debütroman Unsere anarchistischen Herzen eine so leichte wie tiefgehende Sommergeschichte, dass man gar nicht mehr aufhören will zu lesen.
Charles kommt aus Berlin und ist erstmal ziemlich pissed, dass es nach Hildesheim geht. Bzw. noch schlimmer, in einen Vorort, zu einer kleinen Kommune, die dort in einem Haus mit großem Grundstück lebt. Ihre Eltern sind Künstler, aber beide auf ihre Weise gescheitert. Ihre Mutter begehrt gegen ihre Mutterrolle auf, will keine Verantwortung übernehmen. Ihr Vater begehrt gegen den Kunstmarkt auf und katapultiert sich mit Drogen in eine mittlere Psychose, zumindest aber eine schwere Depression. Die Ehe ist schon lange gescheitert, doch beide sind zu schwach, um etwas daran zu ändern. Bis auf den überstürzten Umzug nach Hildesheim. Für den Rest fühlt sich Charles verantwortlich.
Gwen dagegen kommt aus der Hildesheimer Oberschicht, ihr Vater ist Unternehmen, die Eltern in der »High Society« der kleinen Großstadt unterwegs. Hier zählt vor allem Oberfläche, sie müssen als Geschäftsleute funktionieren, als Familie heil und gut aussehen. Dazu noch das repräsentative Haus, die Autos, Statussymbole – was darunter schlummert, wird aktiv weggeschoben und unsichtbar gemacht. Gwen und ihr Bruder sind emotional komplett am Boden, depressiv, verstört, von der dysfunktionalen Familiensituation überfordert. Beide suchen ihre Auswege.
Irgendwie sind Charles und Gwen also doch ziemlich gleich, auch wenn die Grundlagen ganz andere sind. Unsere anarchistischen Herzen ist die Geschichte ihrer Freundschaft. Immer abwechselnd erzählen die beiden aus der Ich-Perspektive, meist wird die Geschichte eng an der Gegenwart vorangetrieben. In der ersten Hälfte laufen die beiden Stränge aufeinander zu, werden die beiden Mädchen beschrieben und charakterisiert, ihnen viel Platz gelassen. In der zweiten starten sie dann zusammen durch.
Unsere anarchistischen Herzen schafft es dabei, die emotionalen Abgründe der Protagonist*innen ziemlich ungefiltert und rau darzustellen, ohne das Buch selbst ins Dunkle abdriften zu lassen. Das ist bei der Last, die die Eltern den beiden durch die komplette Ignoranz ihrer vor allem emotionalen elterlichen Verantwortung aufbürden, keine leichte Aufgabe. Das ist für mich das wirklich Tolle an diesem Roman: Er beschönigt nichts, ist aber weit davon entfernt, seine Figuren zu bemitleiden. Er beschwört die Selbstheilungskräfte einer jungen Generation aus der Freundschaft heraus, aus der Abwendung von ihren kaputten Eltern. Kraftvoll und lustvoll.
GWEN
ich will mich easy fühlen wie ein jam skating video
flawless und funky
aber alles ist so heavy on my heart
crushed ice tüten auf meinen augen
crushed ice cypher in mir drin
Sprachlich nähert sich Lisa Krusche der Generation Z mit einer fluiden Mischung aus Erzähltem und Textnachrichten, die ineinanderfließen. Die recht unterschiedlichen Sprachen von Gwen und Charles setzen sich gut voneinander ab, nur manchmal schießt die Analysefähigkeit der Autorin etwas zu stark in die Rede der Mädchen rein und macht sie etwas unplausibel. Überhaupt hätte dem Roman noch eine Runde Lektorat und vor allem Korrektorat gut getan, er strotzt vor Rechtschreib- und kleinen Anschlussfehlern, was unnötig irritiert und für ein Buch aus dem S. Fischer Verlag untypisch ist. Zum Glück ist er so gut, dass er das verkraften kann.
Unsere anarchistischen Herzen ist Thelma & Louise für die Generation Z. Naja, vielleicht nicht ganz, aber der Roman atmet den Drive eines Ausbruchs aus der häuslichen Enge, aus der bedeutungslosen Umarmung unfähiger oder überforderter Eltern, aus der Teenage Angst, die das alles auslöst. Er ist ein Befreiungsschlag, der Tiefen auslotet und ihnen Höhen zur Seite stellt.
Lisa Krusche
Unsere anarchistischen Herzen
S. Fischer
448 Seiten | 23 Euro
Erschienen am 28.4.2021