Christian Dittloff: Niemehrzeit

Wenn die Eltern sterben, kommt auch ein Teil der eigenen Biografie zum Stillstand. Übers Verharren, Trauern und schlussendlich Erwachsenwerden schreibt Christian Dittloff in seinem zweiten Buch, dem sehr persönlichen Memoir Niemehrzeit.

Christian Dittloff: Niemehrzeit (Cover)

In den Leben der meisten Menschen gibt es diese beiden Personen, die schon immer da waren – die Eltern. Sie haben uns geprägt, uns großgezogen, sind für uns da oder auch manchmal abwesend, aber immer fester Teil unserer Biografien. Was passiert, wenn diese ewige Konstante wegbricht?

Der Tod kam schleichend, nicht plötzlich und doch unerwartet. Als Christian Dittloffs Eltern im Abstand von vier Monaten nacheinander sterben, muss der Autor nicht nur Papierkram erledigen, Beerdigungen organisieren und die Wohnung seiner Eltern auflösen, sondern auch sich und sein Leben neu ordnen.

Der Tod meiner Mutter ist auch der wiederholte Tod meines Vaters. Ohne Eltern verbinden sich alle bisherigen Lebensphasen zu einem festen System, sie stehen unverrückbar in Beziehung zueinander, eine Zwischenbilanz. Ihr Leben garantierte die Erinnerung an mich, als Kind.

Plötzlich steht der 35-jährige Autor familienlos in dieser Welt – seine Kernfamilie ist nun er allein. Er denkt über Vergangenes und Zukünftiges nach und schreibt alles auf in Niemehrzeit. Schreiben als Teil der Trauerbewältigung – das ist keine neue Technik, und nicht umsonst erinnert der Untertitel von Dittloffs Buch Das Jahr des Abschieds von meinen Eltern an Joan Didions Das Jahr magischen Denkens. Auf Didions Memoir oder auch Werke von Annie Ernaux und Roland Barthes nimmt der Autor immer wieder Bezug und schreibt gleichzeitig seine auf ganz eigene Art und Weise eindrücklichen Trauergedanken auf.

Dabei lernt er seine Eltern nochmal ganz neu kennen, versucht die beiden wohl zum ersten Mal als von ihren Elternrollen losgelöste Menschen zu betrachten. Christian Dittloff zieht Bilanz und lässt uns an seinen persönlichsten Gedanken teilhaben.

Meine Eltern sagten mir nicht, dass sie mich liebten, sie sprachen nur von ihrem Stolz. Ich vermute, dass Stolz ihre Form der Liebe war, es ist doch im Grunde auch nur ein von ihrer Zeit geprägtes Wort.

Niemehrzeit ist voll von Traurigkeit, Melancholie und auch verpassten Chancen, doch lässt das Buch auch die skurrilen Seiten des Trauerprozesses nicht unbeleuchtet. Ich musste schon sehr schmunzeln, als ein Gespräch mit einem sehr abgeklärten, norddeutschen Bestatter geschildert wird. Genau so stelle ich mir diesen Schlag Mensch vor.

Christian Dittloff lässt uns ganz nah an sich heran und ich bewundere diese Offenheit, denn sie macht sicherlich auch verletzlich. Die Beschreibungen seines Trauerjahres sind berührend und bereichernd zugleich – ob mit oder ohne eigenen Verlust. Und sie sind eine Mahnung an uns, dass das Leben endlich ist.

Die Zeit ist gefräßig, sie hat meine Eltern verschlungen. Doch sie kann nicht die Trauer verschlingen, denn Trauer folgt deren Maßstäben nicht.

Niemehrzeit bekommt einen festen Platz in meinem Regal, direkt neben Joan Didion – und das nicht nur, weil es alphabetisch dorthin gehört, sondern vor allem weil die beiden Bücher sich so gut ergänzen. Christian Dittloff hat ein beeindruckendes Memoir über Trauer und Tod geschrieben, das bleiben wird – entgegen jeder Vergänglichkeit.

Christian Dittloff: Niemehrzeit (Cover)

Christian Dittloff

Niemehrzeit
Das Jahr des Abschieds von meinen Eltern

Berlin Verlag

224 Seiten | 20 Euro

Erschienen am 29.7.2021

Kategorie Blog, Rezensionen, Sachbuch

Aufgewachsen im schönen Brandenburg lernte ich schon früh die ländliche Einöde lieben und verteufeln zugleich. Heute kehre ich immer wieder gern heim, wohne allerdings lieber in urbanen Räumen. Lesen geht ja zum Glück überall und bietet Ausflüge in diverse Welten. Hier schreibe ich über meine Lektüren.

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