Christlich-jüdische Leitkultur am Arsch: In Gegenwartsbewältigung schaut Max Czollek auf den aktuellen Umgang mit Minderheiten in Deutschland und nimmt sich vor allem konservative Kampfbegriffe wie Leitkultur und Integration vor.
Die Leitkultur ist ein beliebter Begriff von der politischen Mitte bis nach ganz weit rechts, auch wenn er für den siffigen braunen Rand dann vielleicht schon wieder zu brav ist. Umso gefährlicher zündet er in der Mitte der Gesellschaft, die sich eben nicht für rechts hält, sondern eben für konservativ – und manchmal noch nicht mal das. Die Gefahr der Leitkulturdebatte liegt gerade in dieser Anschlussfähigkeit bis in fast linke Milieus hinein.
Was beschreibt sie also? Kurz gesagt: Wir sind nicht gegen andere (also nicht fremden- oder ausländerfeindlich, will sagen: Rassist*innen), solange sie sich genauso verhalten, wie wir, also nicht weiter auffallen und sich unterordnen. Gemeint ist das meist mit großen Zwischenräumen von individueller Entfaltung, im Zweifel steht aber knallharter Ausschluss als Sanktion gegen die immer unausgesprochenen Linien einer solchen Kultur zur Debatte. Und das dann eben auf der Grundlage eines vermeintlichen gesamtgesellschaftlichen Konsenses, der aber eigentlich vielmehr einer Unterdrückung der Minderheiten durch die Mehrheitsgesellschaft entspricht.
Genau an diesem Punkt setzt Max Czollek in Gegenwartsbewältigung an. In Desintegriert euch! schaute Czollek in erster Linie auf in Deutschland lebende Jüdinnen und Juden und deren Instrumentalisierung in der deutschen Vergangenheitsbewältigung. Nun geht es um die Gegenwart und das Zusammenleben in einer Einwanderungsgesellschaft, die sich selbst in großen Teilen am liebsten als lebenslanges Weißwurststadl verstehen möchte, in denen andere Menschen zwar Platz am Tisch nehmen dürfen, aber doch bitte die Klappe zu halten haben, solange sie nicht über Generationen Bayrisch gelernt haben. Oder Sächsisch. Oder Hamburgerisch. Oder eben einfach nur noch schön deutsch sind.
Czolleks erster Anker in dieser Gesellschaft ist die Corona-Pandemie, die nach AIDS-Krise, NSU-Komplex und Umweltzerstörung im globalen Süden plötzlich gezeigt hat, dass auch gesamtgesellschaftlich mehr möglich ist als nur Symbolpolitik. Aber eben nur, wenn auch die Gesamtgesellschaft betroffen ist und nicht nur eine Minderheit. Ein kleiner Ritt durch Nachkriegsliteratur und Kultur allgemein veranschaulicht das Muster der Verdrängung von Minderheitenrechten und -bedürfnissen zur Herstellung einer unproblematischen, ja nicht-problematisierten Leitkultur.
Ähnlich wie die Parole Desintegriert euch! fährt Czollek auch hier wieder mit einer provokanten Gegenstrategie auf: einer jüdisch-muslimischen Leitkultur:
Die jüdisch-muslimische Leitkultur ist der Gegenentwurf zur deutschen Erzählung von Heimat, Harmonie und Einheit. Sie ist ebenso strategisch wie absurd, denn in der gegenwärtigen Situation könnte kaum etwas weiter voneinander entfernt sein als die jüdische und die muslimische Seite. Zugleich ist nach den rechten Terrorangriffen der letzten Jahre klar, dass beide Seiten aller Wahrscheinlichkeit nach ein Schicksal teilen werden: Entweder, es gelingt Juden und Jüdinnen wie Muslim*innen, in Deutschland zu leben. Oder beiden nicht.
Er setzt das Konzept der wehrhaften Demokratie von Loewenstein/Mannheim aus der Nachkriegszeit gegen den Terror der Mitte und versucht damit, wieder ein Gleichgewicht herzustellen. Der künstlerische Griff ins Absurde schützt natürlich vor einer zu direkten Kritik in der Sache, aber ich denke auch nicht, dass große Kritik hier angebracht ist. Zwar sagt Czollek am Ende nichts wirklich Neues, doch entwickelt er seine Sicht schlüssig und in einem noch sichereren Stil als in Desintegriert euch!. Deshalb hat es mir richtig Spaß gemacht, den Essay zu lesen – auch wenn sich manche wohl an Czolleks zuweilen etwas besserwisserischen Art stoßen dürften. Fand ich aber in jedem Fall nicht so schlimm.
Max Czolleks Essay Gegenwartsbewältigung beschreibt konsequent aus den Erfahrungen der Corona-Krise heraus einen Terror der Mitte, der sich in Konzepten wie Leitkultur, Heimat und Integration versteckt. Politische Wölfe im Schafspelz sozusagen, Einfallstore für rechte Ideologie zur Entrechtung von Minderheiten. Sein Konzept einer intersektionalen Gegenöffentlichkeit ist dann keine gedankliche Revolution, aber eine gelungene Provokation, um einen Punkt zu machen: Widerstand ist wichtiger denn je, um zu einer gleichberechtigten Gesellschaft zu gelangen.
Max Czollek
Gegenwartsbewältigung
Hanser
208 Seiten | 20 Euro
Erschienen im August 2020