[class] #10 »Herkunft und Geld« mit Sharon Dodua Otoo, Ulrike Herrmann und Sinthujan Varatharajah

Das letzte Mal »Let’s talk about class« in 2021: Über »Herkunft und Geld« diskutierten Sharon Dodua Otoo, Ulrike Herrmann und Sinthujan Varatharajah mit den Gastgeber*innen Daniela Dröscher und Michael Ebmeyer.

Es ist die letzte Veranstaltung in 2021, zwei Jahre »Let’s talk about class« sind durch. Zeit für eine kleine Rückschau. Unfreiwillig hat die class-Reihe immer wieder als Gradmesser für den Stand der Pandemie fungiert. Es ging vor vollen Rängen los, dann in den Stream, dann kam wieder Publikum, mal mit Masken, mal ohne. Aber auch die Debatten sind natürlich in Erinnerung geblieben. Glücklicherweise haben wir sie schriftlich dokumentiert, sodass nichts verloren ist. Und aufgrund der ab Veranstaltung #2 hinzugekommenen Streams sind auch fast alle Runden nachzuschauen.

Heute geht es also um Herkunft und Geld. Den Anfang macht Sharon Dodua Otoo. Sie ist in London aufgewachsen, hat dort auch studiert, ist später nach Deutschland gekommen und spätestens seit dem Gewinn des Bachmann-Preises 2016 im Literaturbetrieb komplett angekommen. Sie liest einen Text aus der Anthologie Klasse und Kampf, der vom Anfang der Pandemie handelt. Als Autorin und alleinerziehende Mutter war die Situation für sie hoffnungslos. Dieser materielle Tiefpunkt führte dann aber – positiv gewendet – zu einer tieferen Einsicht in die deutsche Klassengesellschaft.

Denn im Gegensatz zu England sind die Klassen in Deutschland deutlich verwischter. Kein Vergleich zur Welt des Thatcherismus, in dem radikaler Marktliberalismus die Arbeiterklasse immer weiter in die Armut und die Reichen zu immer mehr Reichtum führte. Der so deutsche Fetisch Mittelklasse sah da erstmal ganz anders aus. Sekundiert von Ulrike Herrmann stellt Sharon Dodua Otoo damit faktenreich dar, wie die Ungleichverteilung des Reichtums auch in Deutschland Klassengrenzen markiert, ja geradezu zementiert, und für viel zu viele Menschen den Traum vom Klassenaufstieg zum Märchen verkommen lassen.

Einstieg Ulrike Herrmann. Mit ihrem Buch Hurra, wir dürfen zahlen hat sie genau dieses Thema behandelt: Die Mittelschicht und die Unmöglichkeit, aus dieser aufzusteigen, während die eigentlich Reichen sich durch verschiedenste, durchaus auch unbewusste Tricks kleinmachen. Im Mittelpunkt steht dabei vor allem das Wahlverhalten der unteren Klassen.

Wählt die Unterklasse tendenziell eher selten und verschenkt dadurch ihre Stimme, wählt die Mittelschicht überproportional konservative Lobbyparteien, die einen wirtschaftsliberalen Kurs fahren. Dass dieser gerade den wirtschaftlichen Aufstieg verhindert und damit die Klassengrenzen immer weiter zementiert, spielt dabei oft keine Rolle – die Hoffnung von mehr und besseren Arbeitsplätzen überwiegt. Hässliche Nebenerscheinung dieses Phänomens: Das Treten nach unten, denn irgendjemand muss ja Schuld sein an der eigenen Misere. So wird auch klassenübergreifende Solidarität fast unmöglich.

Sinthujan Varatharajah wartet noch auf das Erscheinen seines ersten Buchs im nächsten Jahr. Bekannt wurde er bereits durch Diskussionen zur Klassenkontinuität im deutschen Kulturbetrieb von der NS-Zeit bis heute. Prägend war dabei – neben dem eigentlichen Thema – gerade die Erfahrung, dass nach einer Aufnahme des Themas durch viele klassische Medien am Ende vor allem die Position der Sprecher*innen kritisiert wurde.

Gerade dieses Tabu der historischen Kontinuität passt zum urdeutschen Tabu, nicht über Geld zu reden. Denn hier wird wohl deutlich, wie illusorisch das Leistungsversprechen der neoliberalen Gesellschaft doch ist. Die Zusammenhänge von Erbe und Reichtum stechen vor allem in Deutschland unangenehm hervor, da die Vergangenheit mit dem NS-Regime einen besonders dunklen Kern hat – was aber auch andere, etwa ehemalige Imperialstaaten, auf andere Weise betrifft. Nicht über Geld zu reden, scheint da die sichere Bank zu sein, was sich seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs tief ins deutsche Gewissen eingeschrieben hat. Auch Transparenzinitiativen konnten das bisher kaum ändern, und der Kulturbetrieb ist keinen Deut besser.

Einen kleinen Schritt hat »Let’s talk about class« aber gemacht. Einen weiteren Tipp steuert Sinthujan Varatharajah noch bei, und zwar den YouTube-Kanal Lohnt sich das? vom Bayerischen Rundfunk, in dem junge Menschen über Geld reden und damit versuchen, eine neue Offenheit einzuläuten.


Den ganzen Abend zum Nachschauen gibt es hier:

Wir entlassen nun alle in die Weihnachtspause, zu klassenlosen Klassikern wie Kartoffelsalat mit Würstchen und Champagner, Rehrücken mit Sterni oder was sonst so schmeckt. Was 2022 bringt, wird sich früh genug zeigen. »Let’s talk about class« verabschiedet sich damit bis auf Weiteres.

Kategorie Blog, class
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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