Was ist Erzählen, wo fängt es an, wo hört es auf, und wie kann ganz anders erzählt werden? Der Roman Messer, Zungen von SGL geht an die Grenzen dessen, was wir als Erzählen kennen, und bringt trotzdem eine Geschichte unter – wenn auch ganz anders, als gewohnt.
In der Theorie setzt sich jede*r Autor*in in jedem Text mit der Frage auseinander, was Erzählen ist. Das mag mal expliziter und mal impliziter passieren, doch muss es immer wieder Situationen geben, in denen die Frage »Was mache ich hier eigentlich?« im Vordergrund steht. In denen Konstanten traditionellen Erzählens in Frage gestellt werden und sich Selbstverständlichkeiten nicht mehr greifen lassen wollen. Ich mag Texte sehr, die das Funktionieren des Erzählens nicht für selbstverständlich halten und es – auf welche Weise auch immer – problematisieren oder aus den tradierten Mustern herausfallen lassen.
Messer, Zungen von SGL bzw. Simoné Goldschmidt-Lechner macht genau das, und zwar in einer ganz eigenen Radikalität, die ich in einem Text, der als Roman bezeichnet wird, ewig nicht gesehen habe. Der Roman dekonstruiert das traditionelle Erzählen, das wir mehr oder weniger als personengebundene Handlung mit einer gewissen zeitlichen Kontinuität und von einer oder mehreren Erzählinstanzen geschildert kennen.
Im Prinzip enthält Messer, Zungen all dies auch weiterhin, streicht aber vor allem das Element der erzählerischen Kontinuität, indem der Roman immer wieder neu und anders ansetzt, während die zeitliche Kontinuität aber größtenteils erhalten bleibt. Namen gibt es kaum, sie werden durch Verwandtschaftsgrade ersetzt, also die netzartige Struktur herausgestellt: eine Familie. Erstaunlicherweise gibt es hier auch eine Mitte des Netzes: Mädchen, auch M. genannt.
Life is a comedy, und der Laugh Track beginnt damit, dass ihr Englisch ganz falsch ist, als Mädchen in Deutschland auf die Schule kommt, und endet damit, dass man ihr sagt, sie sehe jetzt fast normal aus, als sie mit sechzehn Kontaktlinsen bekommt.
Nun also zum Inhalt: Durch das Kaleidoskop aus Brechungen und Lücken, Fehlerinnerungen, Fetzen und Unschärfen des Erzählens setzt sich mit der Zeit ein kaputtes Mosaik zusammen, das den Leser*innen die Familiengeschichte von Mädchen näher bringt. Sie beginnt im Südafrika der Kolonialzeit, geht über ins Südafrika der Apartheid bis in die Gegenwart, in der sich die Trennung von Schwarzer und weißer Bevölkerung weiter fortschreibt. Mädchens Weg führt jedoch gleichzeitig auch nach Deutschland, wo sie ein zweites Zuhause findet, sich die Diskriminierungen aus Südafrika aber in anderer Weise wieder zeigen.
Die Sprachen der Familiengeschichte fließen im Text zusammen, Deutsch mischt sich mit Englisch, Afrikaans und anderen Sprachen. Das erzeugt eine Vielstimmigkeit des Erzählens, welche die narrative Dekonstruktion sprachlich fortführt. Die Kontinuität von Gewalt, Rassismus und Sexismus im Spiegel der (post-)kolonialen Geschichte zieht sich durch den Roman und gibt ihm eine eigene Struktur.
Das macht ihn kein Stück leichter zu lesen. Messer, Zungen ist ein dünner Roman, der extrem fordernd ist – ich denke, das ist bis hierhin deutlich geworden. Es braucht Durchhaltevermögen und eine große Lust zur Assoziation, gerade am Anfang eine Linie zu finden. Denn gerade da sind die Erinnerungen so dünn und schwammig, dass die Kapitel nur schwer zu verorten sind. Aber es lohnt sich, dranzubleiben, auch wenn der Roman kein leicht zu lesender Pageturner ist. Was aber ja auch ganz offensichtlich nicht das Ziel war.
Messer, Zungen ist eine Herausforderung. Der Roman beschreitet neues erzählerisches Terrain, ist experimentell, dekonstruiert das Erzählen und entfernt damit auch Indentifikationspotenziale mit einzelnen Personen der Handlung. Wer gerade so etwas sucht, wird hier glücklich, denn es ist ein gelungenes Experiment, das mit dem Fortschreiben kolonialer Strukturen und Traumata in globalisierten Familienstrukturen ein höchstaktuelles Thema behandelt.
SGL: Messer, Zungen | Matthes & Seitz Berlin | 187 Seiten | 20 Euro | erschienen im Juli 2022