Es ist Zeit für einen weiteren Text des WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte. Der dritte vorgestellte Text der Shortlist ist Fanta Finito von Lisa Krusche.
Es ist verrückt: Die Bundesregierung hat sich die Legalisierung von Marihuana vorgenommen, um die Kriminalisierung von Konsument*innen zu beenden und den Schwarzmarkt zu bekämpfen. Während sich Boulevard und Mitte-Rechts-Parteien das Maul zerreißen, stehen andere, nicht minder gefährliche Drogen wie selbstverständlich weiter vollkommen legal da: Alkohol und Nikotin. Schaut man sich die Zahl der Kranken – oder für Konservative und Neoliberale: den wirtschaftlichen Schaden – beider Substanzen an, wirkt Cannabis komplett lächerlich.
Aber Rauchen und Trinken haben eben Tradition (und natürlich auch Wirtschaftskraft, trotz allem), daher sind sie praktisch unantastbar. Selbst kleinste Eingriffe werden aufs Schärfste kritisiert. Bei einem gesellschaftlichen Anlass keinen Alkohol zu trinken, wird gern als Affront aufgenommen und nicht akzeptiert. Damit einher geht ein gesellschaftliches Tabu, das sich vor allem auf den Alkohol konzentriert. Denn alkoholkranke Menschen sind die unangenehme Folge einer Illusion – man blendet sie gern aus, es darf sie einfach nicht geben.
Kein Wunder also, dass es alles andere als einfach ist, als alkoholkranker Mensch Hilfe zu bekommen. Lisa Krusche taucht in ihrem sehr persönlichen Text Fanta Finito tief in den Teufelskreis ein. Sie schildert, wie ihr Vater seine Krankheit lange Zeit geheim gehalten hat, aus Scham, vielleicht auch aus Unwissen. Und dann, als es zu spät ist, ist er längst zu schwach, um sich selbst Hilfe zu holen. Der Text schildert eindrücklich den Kampf einer Angehörigen, die Liebsten versorgt zu wissen, ohne sich selbst dabei komplett aufzugeben. Und das in einem Land, in dem genug Geld für alles Mögliche da ist, die Bürokratie den Zugang aber so sehr erschwert, dass selbst einfache Hilfsangebote kaum erreichbar erscheinen.
Hier könnt ihr den eindrucksvollen Essay von Lisa Krusche nachlesen. Um dem Text noch etwas mehr Kontext zu geben, haben wir der Autorin ein paar Fragen gestellt.
Dein Text ist sehr persönlich und behandelt mit der Alkoholabhängigkeit ein in unserer Gesellschaft weitgehend tabuisiertes Thema – woher kam der Impuls, darüber zu schreiben?
Es gab viel, worüber ich nachdenken wollte. Und ich glaube, schreiben zu können oder zu schreiben, bedeutet in gewisser Weise an ein Weiter zu glauben oder an die Möglichkeit eines Weiters zu glauben oder dieses Weiter zumindest zu behaupten, und deswegen ist schreiben immer wieder wichtig für mich, auch in diesem Fall ist das wahrscheinlich so gewesen.
Du berichtest über die Betroffenheit der Angehörigen von Erkrankten – was kann helfen, damit umzugehen?
Ich habe weder eine medizinische noch eine psychotherapeutische Ausbildung, kann hier also nur über meine persönlichen Erfahrungen sprechen. Für mich war es wichtig, mir Hilfe zu suchen und auch, dass ich Hilfe bekommen habe, ohne sie suchen zu müssen. Diese Menschen, die einfach da sind, ihr großes Leuchten.
Sich eine Therapie zu suchen, auf telefonische Angebote, Beratungsangebote zurückgreifen oder Beratungsstellen vor Ort aufzusuchen. Je nachdem, um was für eine Erkrankung es sich handelt, gibt es ja oft nicht nur Angebote für die Erkrankten, sondern eben auch für die Angehörigen. Mit Freund*innen, mit Familie sprechen, sich zusammentun, Aufgaben aufteilen, sich professionelle Unterstützung organisieren. Mir hat beispielsweise der Sozialpsychiatrische Dienst sehr geholfen.
Leider hängt von vielen Faktoren ab, ob das für Angehörige möglich ist. Nicht alle haben die gleichen Ressourcen, viele der Anlaufstellen sind überlastet. Jede Situation ist anders. Ich hatte zum Beispiel das Glück, ein eigenes Leben zu leben, meine eigene Wohnung zu haben usw. Das heißt, es gab immer einen Schon- und Schutzraum.
Und dann: auch zu versuchen, sich einen inneren Schonraum zu bauen. Sich in den Nischen einrichten. In den Aufzugfahrten, dem Bus, den Wartezeiten, den Nächten, in den Momenten, in denen man aus dem Krankenhaus tritt in ein anderes Licht. Luft holen. Sich an den eigenen Körper erinnern. Tanzen. Rennen. Liegen. Ein Gummiband gegen das Handgelenk schnipsen. Weinen. Atmen. Singen. Seinen Kopf ablegen. Sich vorstellen, wie man bestimmte Leute zum Beispiel von der Krankenkasse zusammenschreit, wenn man wieder die Puste dafür hat. Seinen Kopf ablegen. Sich auf einer Luftmatratze den Fluss runtertreiben lassen. Sich bloß nicht volllabern lassen von Menschen, die meinen, alles hätte einen Sinn und man müsste und würde daran wachsen und es käme genauso, wie es kommen muss. Es hätte auch ganz anders und nicht so schlimm kommen können, und das wäre besser gewesen und der Schmerz darüber, dass es jetzt so ist, wie es ist, der darf sein, und dass man gar nicht wächst, dass man vielleicht stattdessen komplett zusammenfällt auch. Einen Scheiß muss man. Trauern. Atmen! Den eigenen Gefühlen und Bedürfnissen einen Raum geben. Ponys besuchen. Trampolin springen. Sich an sich selbst erinnern.
Dein Essay enthält einige Verweise auf andere Texte. Gibt es noch weitere Bücher oder auch Filme und Musik, die dir bei der Ausarbeitung des Themas geholfen haben?
Ich erzähle euch was Schönes: Als mein Vater nach seinem Klinikaufenthalt übergangsweise bei mir gewohnt hat, war mein kleiner Bruder zu Besuch, und wir haben für eine Deutschklassenarbeit Gedichtanalyse geübt. Wir hatten so verschiedene Gedichtbände zusammengesucht, und mein Vater hat dann diesen Band Die Pille gegen des Grubenunglück von Springhill & 104 andere Gedichte von Richard Brautigan entdeckt, und die Gedichte haben ihn komplett gekickt. Man hat richtig gespürt, wie die ihm im Hirn rumkribbeln. Wenn ich daran denke, macht es mich froh.
Du thematisierst auch, dass es für Betroffene sehr schwer ist, sich selbst Hilfe zu organisieren. Welche Versäumnisse in unserem Gesundheitssystem fallen dir besonders auf und was müsste sinnvollerweise geändert werden, damit Betroffene schnell und diskriminierungsfrei Hilfe bekommen?
Gabriele Winker, die ich im Text auch zitiert habe, schreibt im letzten Kapitel (»Care Revolution als Transformationsstrategie«) ihres Buches Solidarische Care Ökonomie: »Für eine solche transformative Politik sehe ich vier zentrale Ansatzpunkte. Zunächst ist eine drastische Verkürzung der allgemeinen Erwerbsarbeitszeit erforderlich, die mehr Zeit für Sorgearbeit verfügbar macht und zudem einen Rückbau ökologisch schädlicher Produktion ermöglicht. Gleichzeitig ist der Aufbau einer solidarischen Unterstützungsstruktur wichtig, die sowohl individuell das Leben jedes Einzelnen absichert als auch auf unterschiedliche Bedürfnisse zugeschnittene Angebote zur Verfügung stellt, insbesondere auch für Menschen mit hohem Sorgebedarf oder umfangreichen Sorgeaufgaben. Drittens sind demokratische Strukturen vor Ort notwendig, damit die Bedürfnisse tatsächlich aller wahrgenommen werden und auch alle über die Gestaltung des Zusammenlebens mitentscheiden können. Viertens gilt es, Gemeinschaftsprojekte bzw. Commons zu organisieren und zu unterstützen, da sie bereits heute als eine Art Leuchttürme zeigen, dass ein anderes Leben möglich ist, das sorgsam mit sozialen Beziehungen und ökologischen Ressourcen umgeht.« Oder um es in aller Kürze mit Nancy Fraser zu sagen: »It’s time to figure out how to starve the beast and put an end once and for all to cannibal capitalism.«
Was kann Literatur deiner Meinung nach gerade heutzutage gesellschaftspolitisch bewirken?
Ich weiß es nicht, ich kann es nicht sagen. Wir müssten die Literatur fragen. Und vielleicht uns auch das: Was wäre das für eine Welt, wie müsste die aussehen, in der wir nicht alles und alle auf seinen Zweck und Nutzen hin denken müssen?
Vielen Dank für deine Antworten.
Lisa Krusche lebt als freie Schriftstellerin in Braunschweig. 2021 erschienen ihre Romane Unsere anarchistischen Herzen bei S. Fischer und Das Universum ist verdammt groß und super mystisch bei Beltz & Gelberg. Für ihre Arbeit wurde sie mehrfach ausgezeichnet unter anderem mit dem Edit Radio Essaypreis, dem Deutschlandfunk-Preis bei den 44. Tagen der deutschsprachigen Literatur in Klagenfurt sowie dem Kranichsteiner Kinderliteraturstipendium.
Hier findet ihr alle Vorstellungen der diesjährigen Shortlist-Texte.
Der »WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis für kritische Kurztexte« wird jährlich von der Crespo Foundation ausgelobt. Er ist mit 35.000 Euro dotiert und wird für herausragende literarische Kurztexte verliehen, die sich mit aktuellen gesellschaftspolitischen Themen auseinandersetzen. Bisher erhielten den WORTMELDUNGEN-Literaturpreis Petra Piuk, Thomas Stangl, Kathrin Röggla, Marion Poschmann und Volha Hapeyeva. Der mit 15.000 Euro dotierte Förderpreis schließt an den Literaturpreis an und soll junge Autor*innen motivieren, in Auseinandersetzung mit dem Thema des Gewinner*innentextes eine eigene literarische Position zu formulieren.
Disclaimer: Dieser Blogbeitrag ist Teil einer bezahlten Kooperation mit der Crespo Foundation.