Kultur und Kampf, mal wieder: Die Anthologie Canceln. Ein notwendiger Streit lässt unterschiedliche Stimmen zur sogenannten »Cancel Culture« zu Wort kommen und zeichnet ein differenziertes Bild der Debatte.
Anthologien sind ja immer so eine Sache. Ganz unterschiedliche Texte von unterschiedlichen Autor*innen, oft wild zusammengeschmissen und unter ein Motto gezwängt, sodass man beim Lesen immer wieder abdriftet. Mir geht es zumindest so, dass ich häufig das Interesse verliere, weil Beiträge in Anthologien inhaltlich oder qualitativ einfach zu weit auseinanderdriften und ich das Buch entmutigt zur Seite lege und dann vergesse.
Ganz anders ist da zum Glück die Zusammenstellung Canceln. Ein notwendiger Streit, herausgegeben von den Hanser-Lektor*innen (und dem Verleger) Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Jo Lendle und Georg M. Oswald. Zum einen ist das Thema seit längerer Zeit schon aktuell und durch sein immer wieder grelles Aufscheinen in den Medien kaum zu übersehen. Zum anderen schaffen es die Herausgeber*innen, ein sehr differenziertes Feld von Autor*innen zu versammeln. Sie sind gemischt aus alt und jung, bekannt und unbekannt, Feuilleton, Schriftstellern und Wissenschaft.
Dementsprechend begegnen den Lesenden hier sehr unterschiedliche Perspektiven auf das ja kaum neutral zu definierende Phänomen »Cancel Culture«. Aus den verschiedensten Ecken kommen also Schlagworte wie Rassismus, Ableismus oder Antisemitismus sowie Kulturkampf, Empörungskultur, Kunstfreiheit oder Werktreue zur Sprache. Gemeinsam ist so ziemlich allen Beiträgen dabei ein Wille zur Differenzierung, der selbst solche Beiträge, die mir auf den ersten Blick antiquiert und unbegründet erschienen, mit Gewinn lesbar macht. Da geht es dann nicht um Überzeugung, sondern Argumente und Verständnis der anderen Position, was ja auch viel wert ist.
Am polemischsten ist wohl noch der erste Beitrag der Anthologie von Ijoma Mangold. Er empört sich unüberhörbar laut über die Empörung junger Menschen ob des Gebrauchs diskriminierender Sprache in literarischen Werken oder die Proteste etwa gegen reaktionäre Vorträge. Bei aller Empörung lässt er jedoch immer durchblicken, dass ihm das eigentliche Anliegen der anderen Seite gar nicht zuwider ist, sondern allein die Art und Weise des Protests.
Andere Beiträge beschäftigen sich mit eigenen Zwiespalten. So schreibt etwa Mithu Sanyal über ihre Liebe zu Enid Blyton, deren Romanwelten von Rassismus, Sexismus und Kolonialismus durchzogen sind, und Asal Dardan über Michael Endes Jim Knopf. Beide plädieren dabei sowohl für die Möglichkeit des antirassistischen Edierens als auch für die kritische Lektüre – auch mit Kindern, denen man ruhig etwas zutrauen solle. Am meisten in Erinnerung geblieben ist mir aber wohl der abschließende Beitrag von Johannes Schneider, der die Debatte mit Ironie und nicht ohne Selbstgeißelung humorvoll zusammenfasst.
Anzumerken bleibt, dass in den Texten der älteren Mitschreibenden diskriminierende Begriffe in Zitaten ausgeschrieben werden – was hier zwar zum Programm gehört, für mich aber doch mittlerweile im Kontext einer Anthologie eine etwas übertriebene Provokation darstellt. Natürlich sind philologische Genauigkeit und das Vermeiden von rassistischer Reproduktion nur schwer gegeneinander aufzuwiegen, aber in einem so gemischten Werk war es mir doch etwas viel, auch wenn es die entsprechenden Texte inhaltlich konterkariert hätte.
Canceln buchstabiert den titelgebenden Streit aus und überzeugt mit überaus interessanten Beiträgen, die Verständnis für beide Seiten fördern und eigentlich am Ende zeigen, dass es (zumindest unter den Autor*innen des Bandes) gar keine eindeutigen Seiten gibt, sondern sehr differenzierte Positionen, die Schwerpunkte auf verschiedene Anliegen legen, dabei aber die gleiche Grundposition teilen. Hier wie immer stellt sich also heraus: Kommunikation ist alles! Dass die in aufgeregten Debatten auf Social Media meist zu kurz kommt, weiß aber mittlerweile auch jeder.
Annika Domainko, Tobias Heyl, Florian Kessler, Jo Lendle, Georg M. Oswald (Hg.): Canceln. Ein notwendiger Streit | Hanser | 224 Seiten | 22 Euro | Erschienen im März 2023