Steffen Mau: Ungleich vereint

Wieder der Osten: Vor den Landtagswahlen durchleuchtet Steffen Mau in Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt die unterschiedlichen Situationen in den neuen und alten Bundesländern und bringt damit viel Differenzierung in einen oft parolenhaften Diskurs.

Mau, Ungleich vereint, Cover

2023 machte vor allem ein Sachbuch von sich reden. Dirk Oschmann stand mit seinem provokanten Titel Der Osten: eine westdeutsche Erfindung monatelang auf der Bestsellerliste und regte zahlreiche Diskussionen in der Republik an. Er stellt die richtigen Fragen: Wie kann es sein, dass der Osten über 30 Jahre nach der Wiedervereinigung immer noch anders tickt als der Westen? Wieso sind die Menschen dort im Vergleich zu denen im Westen immer noch im Durchschnitt geringer bezahlt, wieso kaum in hohen Führungspositionen verankert, wieso weniger vermögend, vor allem wenn es um Erbschaften geht?

Sein Schluss ist provokant: Der Westen mache den Osten zu dem, was er ist, er habe ihn in einer kolonisatorischen Bewegung übernommen und ihm sein eigenes Wesen übergestülpt. Gleichzeitig fände aber ein durchgängiges Othering statt, eine Abspaltung der Ostdeutschen vom gesamtdeutschen Normalzustand, was Selbstbewusstsein und die Möglichkeit von Glück im Osten nach wie vor schwer mache. Der Osten als das Andere des Westens, als dunkeldeutsche Gegenfolie, vor der man gut dastehen kann.

Steffen Mau ist ebenfalls Ostdeutscher, im Gegensatz zu Oschmann aber Soziologe und damit vom Fach, wenn es um gesellschaftliche Diagnosen auf wissenschaftlicher Basis geht. Auf Grundlage einer breiten Datenbasis nimmt er sich in Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt das gleiche Thema wie Oschmann vor, um seine eigenen Schlüsse zu ziehen, wobei er Oschmann gewissermaßen vom Kopf auf die Füße stellt.

So sieht Mau in erster Linie sich verfestigende Unterschiede zwischen Ost und West. Er macht Sozialstruktur, Demografie sowie die politische Identität und Mentalität dabei als zentrale Aspekte der Unterscheidung aus. Es wäre ja auch höchst verwunderlich, wenn sich knapp 50 Jahre DDR-Erfahrungen in einer deutschen Teilgesellschaft einfach in Luft auflösen würden, sobald eine politische Wiedervereinigung stattgefunden hat, Autobahnen ausgebaut, Sanierungsprogramme durchgeführt und die Supermarktregale mit den gleichen Produkten wie im Westen vollgestellt wurden.

Ostdeutschland ist sehr ländlich geprägt, der ehemalige »Arbeiter- und Bauernstaat« musste nach der Wende komplett umgekrempelt werden, wobei chaotische Zustände herrschten und durch fehlendes Kapital im Osten viel zu viel Werte an westdeutsche Unternehmer und Konzerne fielen. Der Wandel in die heutige Dienstleistungs- und Industriewirtschaft Gesamtdeutschlands war dadurch sehr erschwert und förderte eine Abwanderung gerade junger Frauen und höher gebildeter Männer aus dem Osten. Diese Erfahrungen haben sich tief eingeprägt, genau wie lange Jahre wenig demokratischer SED-Politik in der DDR, was in der Summe ein ziemlich niedriges Vertrauen in die Leistungsfähigkeit demokratischer Verfahren ergibt.

Ungleich vereint legt diesen über alle Maßen kurzen und unzureichenden Abriss meinerseits sehr detailliert und auf der Grundlage aktueller Studien dar. Man muss kein Soziologiestudium abgeschlossen haben, um ihm zu folgen, er changiert flüssig zwischen fachlichen und umgangssprachlichen Beschreibungen. Dabei stellt er fest, dass die Phase der Transformation Ostdeutschlands abgeschlossen ist, die Unterschiede zwischen Ost und West aber trotzdem bleiben werden – und zwar noch lange. Er vergleicht den Prozess mit Zugewanderten, bei denen die Integration in die Mehrheitsgesellschaft sich über viele Generationen erstreckt und durch verschieden Phasen läuft.

In Anbetracht der kommenden Landtagswahlen in den ostdeutschen Bundesländern muss man konstatieren, dass gerade in einem großen Teil der Bevölkerung eine identitäre Phase vorherrscht. Reale und empfundene Kränkungen wurden von Eltern an Kinder weitergegeben und lassen eine ostdeutsche Identität aufleben, die sich in vielen Fällen in rechtsextremen Einstellungen manifestiert. Um dieser Entwicklung mittel- bis langfristig zu begegnen, schlägt Mau den Einsatz von Bürgerräten im Osten vor, um demokratische Prozesse bürgernäher zu gestalten. Damit ließe sich der oft im Internet ausartende Streit in ein Gespräch zurückholen, das an die Runden Tische der Vorwendezeit anknüpfen kann.

Ungleich vereint von Steffen Mau ist genau das Buch, das Deutschland braucht. Es betrachtet den Osten ohne Scheuklappen, schließt an laufende Diskurse an, analysiert scharf, aber ohne Vorurteile und vor allem auch ohne provokante Thesen oder Slogans. Ein Buch, das in seiner nüchternen Bestandsaufnahme überzeugt und Vorschläge macht, um die Situation zu verbessern – auch wenn diese in Erwartung der Wahlergebnisse wenig umsetzbar erscheinen.

Steffen Mau: Ungleich vereint. Warum der Osten anders bleibt | Suhrkamp | 168 Seiten | 18 Euro | Erschienen im Juni 2024

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Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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