Es ist ruhig geworden um die Themen Flucht und Migration – umso mehr, seitdem der Virus uns in Schach hält. Zugegebenermaßen hatte ich meine kleine Reihe auch fast vergessen. Ein wenig neuer Input hat sie aber wieder auf’s Parkett gehievt.
Während sich im Zentrum Europas die Menschen nun vor allem mit sich selbst und den Einschränkungen ihres Lebensstils auseinandersetzen, sitzen an den Grenzen Europas, vor allem auf den griechischen Inseln und an der Grenze zur Türkei, die Geflüchteten praktisch aufeinander. Was hier als Zumutung verstanden wird, Isolation, ist dort nicht erst seit Kurzem eine Unmöglichkeit. Das Lager Moira mit seiner dramatischen Überbelegung ist wie ein Symbol der kaum wahrgenommenen Katastrophe.
In der Sache hat sich dabei nicht wirklich viel geändert, außer dass die Rechtspopulisten ihren Fokus und dadurch die öffentliche Debatte verschoben haben. Die Lega in Italien ist raus aus der Regierung, in Deutschland beschäftigt sich die verstummte AfD gerade auch mit anderen Themen, und durch das sicherlich bald wieder wirksame Abkommen mit der Türkei ist der Druck auf Europa gesunken. Das scheint auch Orbán irgendwie beruhigt zu haben, zumindest beschäftigt er sich – wie auch Polen – wieder mehr damit, den Rechtsstaat abzuschaffen, als gegen Geflüchtete zu wettern und Zäune zu bauen.
Deshalb werden aber nicht weniger Menschen aus ihren Herkunftsländern vertrieben und zu einer lebensbedrohlichen Flucht gezwungen. Und auch wenn es prinzipiell gut ist, dass die öffentliche Debatte umgeschwungen ist und Geflüchtete nicht mehr als universelle Sündenböcke herhalten müssen, so ist der Verlust an Aufmerksamkeit auch ein Problem. Denn viel zu viele Initiativen zur Rettung und Betreuung von Geflüchteten sind immer noch in privater Hand und daher auf Spenden angewiesen (auch für diverse anhängige Prozesse).
Ich für meinen Teil habe es immerhin endlich geschafft, vier Essaybände zum Thema zu lesen, um sie hier zu präsentieren und damit wieder ein klein wenig Aufmerksamkeit zu generieren. Fast anderthalb Jahre sind seit dem Warm-Up vergangen, ein gutes Jahr seit der Analyse. An Aktualität verloren hat all das aber nur graduell, am Problem selbst hat sich wenig geändert. Ich habe versucht, den Fokus dabei möglichst weit zu halten und verschiedene Aspekte zu beleuchten. Es gibt sehr viele Essays zum Thema – dass gerade diese hier im Beitrag sind, ist immer auch ein wenig Zufall. Aber ich denke, sie bieten ein gutes Spektrum.
Gewohnt krachig kommt der Essay von Slavoj Žižek daher. Er stellt in den Vordergrund, wie sich in der letzten Migrationskrise Anfang der 2010er Jahre Klassenstrukturen reproduzieren, der Kampf gegen die Klassengesellschaft aber in Vergessenheit geraten ist. So stehen sich Geflüchtete wie auch Migrant:innen und »Einheimische« in einem ignoranten Multikulturalismus gegenüber, der sie nicht zusammenführen kann, während das globale Kapital sich über neue Märkte und potenzielle Kund:innen erfreut.
Slavoj Žižek: Der neue Klassenkampf. Die wahren Gründe für Flucht und Terror | Aus dem Englischen übersetzt von Regina Schneider | Ullstein | 96 Seiten | 8 Euro | 2015
Überraschenderweise wird auch der Soziologe Zygmunt Bauman beim Thema Migration und Fremdenangst geradezu polemisch. Im guten Sinne natürlich, sein Essay Die Angst vor den anderen liest sich bis auf etwas überflüssige Exkurse durch die komplette Philosophiegeschichte sehr flüssig und konzentriert. Der Essay konzentriert sich dabei sehr auf die Lage Großbritanniens, ist aber in seinen Kernaussagen durchaus übertragbar. Bauman macht vor allem das Gefühl, zum Opfer gemacht zu werden, als Schlüsselmoment für Xenophobie und Rassismus aus. Denn die Schuldigen, die es natürlich braucht, um sich selbst zu erleichtern, sind immer die gesellschaftlich Schwächsten: Geflüchtete. In Kombination mit der Anonymität der sozialen Medien schürt sich schnell Hass auf, der unsere Gesellschaft an den Rand des Zerreißens bringen kann.
Zygmunt Bauman: Die Angst vor den anderen. Ein Essay über Migration und Panikmache | Aus dem Englischen von Michael Bischoff | Suhrkamp | 125 Seiten | 12 Euro | 2016
Kenan Malik konzentriert sich auf den Multikulturalismus und kritisiert sowohl das Konzept selbst als auch die Angriffe darauf von rechts. Sein Kernpunkt ist ähnlich wie bei Žižek der Verlust des gemeinsamen Kampfes gegen ungleiche Einkommens- und Vermögensverteilung. Statt dessen sei Identitätspolitik das Steckenpferd der politisch aktiven Linken geworden, deren Forderungen nach Toleranz und Respekt für alle Lebensformen nicht weit genug gehen, sondern lediglich ein Stadium des Nebeneinander zementieren. Identitätspolitik führt zu immer weiter partikularisierten Einzelinteressen und immer kleineren Gruppen, die sich nur noch bedingt gegenseitig unterstützen können, da die Gräben immer feiner verlaufen und sich oft an Kleinigkeiten auftürmen. Dadurch wird eine multikulturelle Gesellschaft weniger wehrhaft für Angriffe von rechts, und seien sie noch so plump.
Kenan Malik: Das Unbehagen in den Kulturen. Eine Kritik des Multikulturalismus und seiner Gegner | Aus dem Englischen von Nils-Arne Münch | Novo Argumente | 124 Seiten | 12 Euro | 2013 (Original) / 2017 (dt. Ausgabe)
Ähnlich wie Malik geht es auch beim Sammelband Postmigrantische Perspektiven eher um die Zukunft des Zusammenlebens als die aktuellen Krisen. Das Annehmen von Migrationserfahrungen als Normalfall heutiger Gesellschaften ist die Grundlage, auf der nach neuen Perspektiven gesucht wird. Perspektiven, die Gesellschaften analysieren, aber auch neue Politik entwickeln können, orientiert an den postkolonialistischen Studien. Der Sammelband gibt Einblick in die verschiedenen Richtungen, in die unter dem Dach des Postmigrantischen momentan geforscht wird. Die gemeinsame Richtung ist dabei immer die Frage, wie Politik und Gesellschaft ohne das Gegeneinander von Einheimischen und Zugewanderten funktionieren können und damit die klassische Linie, an der sich Rassismus und gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit entzünden, durchlöchert werden kann.
Naika Foroutan, Juliane Karakayali, Riem Spielhaus (Hgg.): Postmigrantische Perspektiven. Ordnungssysteme, Repräsentationen, Kritik | bpb/Campus | 315 Seiten | 4,50 Euro | 2018
Abschließend kann ich wenig überraschend hervorheben, dass mich dieses kleine Lektüreprojekt bereichert und meine Wahrnehmung des komplexen Themas Flucht und Migration geschärft hat. Ich fühle mich im Gegensatz zum Sommer 2018, als ich, frustriert über meine eigene Abstumpfung dem Thema gegenüber, nach Büchern gesucht habe, erfrischend re-sensibilisiert. Auch und gerade, da Flucht und Migration mittlerweile medial komplett vom menschengemachten Klimawandel und jetzt auch von Corona überlagert werden, ist das ein Erfolg.
Zumindest Klimawandel und Flucht lassen sich mittlerweile nicht mehr unabhängig voneinander betrachten, daher werde ich auch weiterhin versuchen, regelmäßig Bücher zu beiden Themen hier unterzubringen. Die große Frage, ob dies mehr bringt als nur mein Gewissen zu erleichtern, ist damit natürlich nicht beantwortet. Aber vielleicht bringt es Ideen für die eine oder den anderen, sich auch etwas tiefergehend damit zu beschäftigen und vielleicht an einer noch so kleinen Schraube im eigenen Leben zu drehen.