Was den Kampf gegen Diskriminierung so schwierig macht: Lilian Thuram untersucht in Das weiße Denken, wie tief sich rassistische Vorstellungen über Jahrhunderte in die Gesellschaft eingeschrieben und sich dabei unsichtbar gemacht haben – und wie man sie wieder sichtbar machen muss.
Zahlreiche aktuelle Diskurse beschäftigen sich derzeit mit dem Kampf gegen Diskriminierung. Neben der klassischen antirassistischen Arbeit, die in erster Linie BIPoC in allen Gesellschaftsbereichen und Lebenslagen unterstützt und dies mit gesamtgesellschaftlich angelegter Bildungsarbeit unterlegt, gibt es aber immer mehr Strömungen, die sich nicht mehr an BIPoC als Diskriminierte wenden. Nicht mehr Empowerment der Unterdrückten und Diskriminierten steht dort im Vordergrund, sondern das Sichtbarmachen und Hinterfragen von Privilegien der weißen Mehrheitsgesellschaft. Egal ob kulturelle Aneignung, Critical Whiteness, weiße Fragilität oder der zum Glück mittlerweile allgegenwärtige Slogan »Check your privilege!« – hier stehen plötzlich die Weißen im Fokus.
Hört sich komisch an? Fühlt sich komisch an, das zu lesen? Dann bist du, der*die das hier liest, wahrscheinlich ebenso weiß wie ich. Und damit sind wir gleich am Grund dessen, was eine ruhige Diskussion oder einfach nur Darlegung des fundamentalen Problems mit dem Weißsein fast unmöglich macht: Weißsein wurde über Jahrhunderte als Standard zivilisierten Menschseins etabliert, sodass es uns heute höchst eigenartig erscheint, es überhaupt zu thematisieren. Über die eigene Race kategorisiert zu werden, fühlt sich schlimm an. Erniedrigend, objektifizierend, einschränkend. Selbst mit allen Privilegien der Welt im Rücken, wie es bei mir ja der Fall ist. Und doch ist es nur ein kaum ernstzunehmendes Körnchen dessen, was BIPoC in Jahrhunderten rassistischer Politik erfahren mussten und weiter müssen. Und der Kern der weißen Fragilität.
Damit ich meiner Race entkommen kann und meine Hautfarbe nichts weiter als ein körperliches Merkmal ohne weitere Bedeutung ist, müssen die Weißen ihrer Race entkommen. Aber wie geht das? Paradoxerweise müssen sie sich dafür zunächst einmal ihrer Race bewusst werden, und der Tatsache, dass diese sie dazu zwingt, bestimmte Dinge zu reproduzieren.
Lilian Thuram nimmt sich genau dieses Problems in Das weiße Denken an. In seinem Buch versucht er, das sichtbar zu machen, was rassistische Regime seit Anbeginn der europäischen Renaissance unsichtbar gemacht haben: das Weißsein. Er verfolgt dabei einen doppelten Ansatz. Einmal dröselt er die Geschichte des europäischen Rassismus komplett auf, wobei er sich in erster Linie auf Frankreich bezieht und in dieser Beziehung vermutlich die detaillierteste auf Deutsch verfügbare Schilderung vorlegt. Das kann in seiner Detail- und Zitatfülle durchaus auch mal erschlagend sein. Aber wer gerade an der französischen Geschichte interessiert ist, wird sich freuen.
Hinzu kommt ein aktueller Ansatz, der anekdotisch motiviert wird, aber deutlich darüber hinausgeht. Als ehemaliger Weltklasse-Fußballer, dessen Eltern von den Antillen nach Frankreich kamen, ist Thuram viel herumgekommen und auch gut mit der französischen Politik vernetzt. Gerade in seiner heutigen antirassistischen Arbeit begegnet er dabei immer wieder Manifestationen des weißen Denkens in allen möglichen und unmöglichen Konstellationen. Dabei geht es ihm nicht darum, andere lächerlich zu machen oder bloßzustellen, sondern immer gezielt um die Sichtbarmachung des unsichtbaren weißen Denkens.
Zusammen ergeben die beiden Ansätze eine ungemein detaillierte, fundierte und gleichzeitig lockere Annäherung an ein schwieriges Thema. Das weiße Denken geht damit zum Beispiel über Aladin El-Mafaalanis Wozu Rassismus? hinaus, das sich vor allem auf das System Rassismus bezieht und dieses beschreibt. Thurams Buch ist ein ebenso schreiendes Plädoyer gegen das Andauern des Rassismus wie auch eine – in Anbetracht auch seiner eigenen Geschichte kaum zu fassende – ruhige und ausgeglichene Ansprache an weiße Menschen. Mehr kann man wirklich kaum verlangen.
Lilian Thuram: Das weiße Denken | Edition Nautilus | 304 Seiten | 22 Euro | erschienen im März 2022