Julia Ebner: Massenradikalisierung

Mehr als Statistiken: In Massenradikalisierung berichtet Julia Ebner von Undercover-Recherchen aus Milieus der radikalisierten Mitte. Ein erschreckender Einblick und perfekter Begleiter für theoretischere Werke.

Julia Ebner, Massenradikalisierung, Cover

Alle zwei Jahre erscheint bei der Friedrich-Ebert-Stiftung eine neue Ausgabe der Mitte-Studie. Sie untersucht repräsentativ verschiedene Einstellungen in der deutschen Bevölkerung. Unter besonderer Beobachtung stehen dabei traditionell rechte Einstellungen, die von Befürworten einer Diktatur über Nationalchauvinismus bis hin zum Verharmlosen des Nationalsozialismus reichen. Hier kann man einen Blick reinwerfen, es sind die besten Daten, die wir in Deutschland über das politische Denken der Bevölkerung haben. Sie werden in allen guten Publikationen zu Rechtsextremismus verwendet, etwa in Matthias Quents Deutschland rechts außen oder Rechte Bedrohungsallianzen von Heitmeyer und anderen.

Kern der Erkenntnisse aus den letzten Jahren ist eine Erosion der Mitte, die in immer mehr kleine Teile zerbricht – nicht wenige davon mit deutlichem Rechtsdrall. Gefährlich ist an diesen vielen Splittergruppen vor allem, dass sie nicht mehr in das Konzept klassischer Rechtsextremisten passen, also ohne entsprechende Informationen erstmal nicht als solche zu erkennen sind und sich auch oft selbst gar nicht dort verorten würden. Die letzte große Bewegung, die an sich schon wieder bedeutungslos geworden ist, war Querdenken. In sich komplett inkohärent, wirr und widersprüchlich, hatte die Bewegung aber gerade durch ihre vielen verschiedenen inneren Strömungen Anschlusspotenzial in unterschiedlichste Richtungen, die auch viele Menschen aus der Mitte mitnehmen konnten.

In Massenradikalisierung schaut die Extremismusforscherin Julia Ebner auf rechtsgerichtete Gruppen, die alle sehr verschieden anschlussfähig sind und Interessierten durchaus bekannt. Spannend wird die Herangehensweise in Massenradikalisierung vor allem dadurch, dass Julia Ebner in diesen Gruppen durchweg undercover recherchiert hat und das Buch diese Recherchen in einem sehr erzählerischen Ansatz erlebbar macht und dann mit – zugegebenermaßen überschaubaren – Hintergrundinformationen anreichert.

So tauchen wir beim Lesen kurz ein in die Welt der Incels – involuntary celibates, die Frauen hassen –, Klimawandelleugner*innen, von White Lives Matter- und Anti-Trans-Aktivist*innen, Impfgegner*innen und russischen Suprematisten. Eine Tour de Force durch komplexe Milieus, die ohne Frage nicht abschließend beschrieben oder untersucht werden. Und doch konnte mich Massenradikalisierung fesseln, und ich konnte mit Gewinn herausgehen aus der Lektüre.

Das liegt für mich vor allem daran, dass die spannend dargestellten Undercover-Szenen etwas bieten, was theoretische Bücher nicht geben können: Emotionen. Hier werden skizzenhafte Bilder von unterschiedlichsten Menschen gezeichnet, die in den beschriebenen Bewegungen landen und meist keinen anderen Ausweg mehr sehen, als weiterzumachen. Es ist dabei wichtig, im Hinterkopf zu behalten, dass hier potenzielle Täter porträtiert werden, die anderen Menschen aktiv schaden – oder dies zumindest billigend in Kauf nehmen würden. Ein Drahtseilakt. Doch bleiben die Bilder so grob gezeichnet, dass Identifikation kaum möglich ist, die Menschen bleiben bloße Rollen, Prototypen, wie sie in den Bewegungen zu finden sind.

Damit ist Massenradikalisierung für mich eine gute Ergänzung zu Titeln über Rechtsextremismus wie die beiden oben genannten. Für sich allein kann es ein guter, spannend zu lesender Einstieg in eine tiefergehende Beschäftigung mit dem Thema sein. Die Vorschläge zum Umgang mit den beschriebenen Bewegungen am Ende wirken eher wie eine Pflichterfüllung in Richtung konstruktivem Journalismus, schaden aber auch nicht.

Julia Ebner: Massenradikalisierung | Suhrkamp nova | 360 Seiten | 20 Euro | Erschienen im März 2023

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Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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