Nach der Pandemie fragt man sich, welches der letzten Jahre eigentlich schlimmer war: 2023 war jedenfalls ein Jahr der Kriege, der Krise und des Leids. Für uns persönlich dagegen komplettes Gegenprogramm. Nicht leicht, das alles zusammenzubringen. Nichtsdestotrotz kommen hier unsere Highlights des Jahres.
Es wird zum Dauerbrenner und ich hoffe einfach mal, dass wir uns nicht zu sehr wiederholen. Aber nun schon zum vierten Mal in Folge müssen wir den Jahresrückblick so beginnen: 2023 war sehr gut zu uns, und mit dem Blick hinaus in die Welt können wir nicht anders, als unglaublich dankbar dafür zu sein. Die Geburt unseres Kindes und die ersten Monate mit ihm überschatten das Negative in der Welt für uns immer noch, auch wenn es immer schwerer wird, es nicht zu nah an uns heranzulassen.
Der unablässig weiter laufende Krieg in der Ukraine, der Krieg zwischen Israel und der Hamas und die vielen weiteren Konflikte, die kaum Beachtung finden, haben das Jahr 2023 geprägt. Unnötigerweise dazu noch die Politik, in der weltweit die Konservativen bis Rechtsradikalen immer mehr Zuspruch für Positionen bekommen, die jegliche Solidarität in den Konflikten aufkündigen wollen oder diese sogar zu ihrem eigenen Vorteil weiter anheizen. Von der Verabschiedung der praktisch kompletten Politik vom 1,5-Grad-Ziel in der Klimapolitik will ich da schon gar nicht mehr anfangen.
Und trotzdem gab es natürlich auch Gutes. Für uns persönlich, aber natürlich auch sonst. Unsere Lesehighlights sowie ein paar kleine persönliche Eindrücke gibt es nun wie immer hier.
Unsere Lesehighlights 2023
Bei Stefan sind in diesem Jahr deutlich weniger Bücher zur Auswahl als zuvor, die Zeit zum Lesen und Rezensieren war einfach begrenzter als in den Jahren zuvor. Highlights gab es aber natürlich trotzdem. In der Belletristik stechen vier Romane heraus, beim wirklich zu kurz gekommenen Sachbuch sind es immerhin zwei.
Ganz oben steht die jüdische Coming-of-Age-Geschichte Gewässer im Ziplock von Dana Vowinckel, die seit dem 7. Oktober eine zusätzliche Aktualität bekommen hat. Der Roman begleitet die junge Berliner Jüdin Margarita über einen denkwürdigen Sommer hinweg zwischen ihrem israelischen Vater und ihrer US-amerikanischen Mutter, die nach langer Zeit wieder in ihrem Leben auftaucht. Eine sehr emotionale Annäherung, die Einblicke in ganz unterschiedliche jüdische Lebenswelten von heute gibt.
Lapvona von Ottessa Moshfegh führt ganz weit weg von unserer heutigen Lebenswelt, um eine archaische Geschichte in einer kleinen Mittelalterwelt zu erzählen. Das dunkel-märchenhafte Setting bietet dabei die Kulisse für ein Panorama alles Schlechten, das in den Menschen so schlummert. Und ist damit am Ende doch gar nicht so weit von uns entfernt. Unglaublich hart und kompromisslos unbequem.
Das Gleiche ließe sich auch über MTTR von Julia Friese sagen. Der Roman erzählt von einer jungen Elternschaft mit Fokus auf der Mutter. Er kehrt alle negativen Aspekte überaus deutlich hervor und zeigt damit, welchen Druck die Gesellschaft heute auf Frauen ausübt, die Kinder haben bzw. großziehen möchten. Gerade auch für mich augenöffnend, da all dieser Druck für Väter tatsächlich überhaupt nicht zu existieren scheint, was ihn nur nochmal absurder macht.
Zum Abschluss gibt es dann noch den großen Roman Die geheimste Erinnerung der Menschen von Mohamed Mbougar Sarr. Der senegalesische Autor erzählt von Rassismus, Kolonialismus und Liebe, von Heimat und Exil, und vor allem aber von der Kraft der Literatur. Passenderweise wird dies in einem packenden Sound verpackt, der sprach- und erzählgewaltig zugleich ist. Große Literatur.
Im Sachbuch hatte Stefan keine allzu große Auswahl, da ihm 2023 der Sinn irgendwie mehr nach Romanen stand. Aber zwei Titel kann er doch hervorheben. Ähnlich wie Gewässer im Ziplock haben auch die beiden Sachbücher eine hohe Aktualität mit Blick auf den derzeit weiter hochkochenden Antisemitismus.
Meron Mendels Über Israel reden noch am meisten, da es sich auf Israel und den Nahostkonflikt aus deutscher Perspektive konzentriert und deutlich macht, wie sehr der Diskurs über Israel von der eigentlichen Lebenswelt dort entkoppelt ist und gleichzeitig moderate Zwischentöne in der Diskussion sofort von beiden Seiten attackiert werden.
Versöhnungstheater von Max Czollek widmet sich dann noch dem Bedürfnis der Deutschen nach jüdischer Vergebung und Versöhnung in den Jahren nach 1945. Besonders deutlich hebt er dabei das von der deutschen Politik herbeigeredete Phantasma erfolgter Versöhnung von jüdischer Seite hervor, das es zum Beispiel erlaubte, das »Sommermärchen« 2006 mit großem nationalistischen Kitsch zu begehen und »endlich wieder stolz auf sein Land sein zu können«, mit wehenden Fahnen und allem, was vorher im Angesicht der Verbrechen vor und während des Zweiten Weltkriegs verboten schien.
Juliane hat gerade mit großer Freude festgestellt, dass sie die Anzahl ihrer geschriebenen Rezensionen 2023 im Vergleich zum Vorjahr verdoppeln konnte. Sechs Langrezensionen gab es von ihr und zwei kurze. Ihr Vorsatz für 2024 lautet dann also, zwölf Rezensionen zu posten, pro Monat eine … das sollte doch zu schaffen sein. Obwohl … vielleicht hat der kleine neue Mitbewohner da auch noch ein Wörtchen mitzureden.
Gelesen hat sie in diesem Jahr aber ganze dreißig Bücher und mit dem Debütroman Liebewesen von Caroline Schmitt gab’s direkt zu Jahresbeginn auch schon ein Highlight. Eine klischeefreie Liebesgeschichte, die ihresgleichen sucht, sehr urban, sehr nahbar und zugleich schockierend – Bingereadingpotenzial.
Zwei weitere Romanhighlights waren die beiden buchpreisnominierten Bücher Kochen im falschen Jahrhundert von Teresa Präauer sowie Vatermal von Necati Öziri. Erstes spielt einen Dinnerabend immer wieder aufs Neue durch und wirft dabei einen satirisch-zynischen Blick in die gutbürgerliche Gesellschaft – sprachlich als auch inhaltlich ein Hochgenuss. Vatermal erzählt aus der Perspektive von Arda, der im Krankenhaus liegt und das Leben seiner Familie in einem Brief an den abwesenden Vater Revue passieren lässt. Dabei geht’s um soziale Herkunft, um das Leben als migrantische Familie in Deutschland und um Generationenkonflikte. Dieses Buch macht wütend, traurig und berührt auf so vielen Ebenen.
Um Migra-Familien, Klassismus und die weiße Mehrheitsgesellschaft geht es auch in Elina Penners Sachbuchdebüt Migrantenmutti sowie in Hami Nguyens Das Ende der Unsichtbarkeit – beides große Highlights und Must-Reads, wenn man sich mit verschiedenen Diskriminierungsformen auseinandersetzen will. Genauso bereichernd war für Juliane die Lektüre von Mareice Kaisers aktuellem Sachbuch Wie viel, in dem es um die Macht des Geldes und ebenfalls Klassismus geht.
Da 2023 für Juliane vor allem Schwangerschaft und Geburt im Fokus standen, darf natürlich auch ein Buch zum Thema Mutterschaft nicht auf der Highlightliste fehlen, und das ist in diesem Fall Lebenswerk von Rachel Cusk. Ein unverklärter Blick auf das Leben mit einem Baby und die Zwänge und (Schuld-)Gefühle, die dieses vor allem für die Mütter mit sich bringt.
Außerdem wird Hässlichkeit von Moshtari Hilal wohl für immer ein Lebenshighlight für Juliane bleiben. Dieses Buch ist nicht nur wunderschön gestaltet, setzt sich auf verschiedene Art und Weise – mal essayistisch, mal poetisch, aber immer sehr persönlich – mit dem Thema Hässlichkeit auseinander, sondern wird darüber hinaus auch für immer das Buch sein, das Juliane gelesen hat, als ihre Fruchtblase geplatzt ist.
Und sonst so?
In diesem Jahr ging es für uns endlich wieder auf die Leipziger Buchmesse, was sehr schön war. Die großen Partys haben wir zwar aufgrund von Schwangerschaftsmüdigkeit größtenteils ausgelassen, aber auch die vielen Begegnungen mit lieben Menschen aus der Buchbranche tagsüber waren wie immer bereichernd.
Ansonsten durften wir auch in diesem Jahr den WORTMELDUNGEN Ulrike Crespo Literaturpreis sowie Förderpreis begleiten und abermals tolle Texte lesen und darüber schreiben. Wir freuen uns schon auf die nächste Ausgabe in 2024.
Trotz Julianes stetig wachsenden Bauchs ging es auch in diesem Jahr auf so einige tolle Veranstaltungen, darunter zahlreiche Lesungen und Blogger*innenevents, das Prosanova in Hildesheim, zur Eröffnung der Buchhandlung »Literaturensohn« in Berlin (4 Tage vor Geburt), dem lcb Sommerfest (2 Tage vor Geburt) und dem 31. open mike (8 Wochen nach Geburt) – wenn das mal kein Literaturbaby wird! 😀
Außerdem haben wir wieder einige größere und kleinere Reisen unternommen, die meistens mit unserem geliebten Hobby Wandern verbunden waren: Madeira, Harz. Als es um Julianes Mobilität nicht mehr ganz so gut bestellt war, gab es dann noch Auszeiten beim Catsitting auf dem sächsischen Land, beim Paddeln in Leipzig und im brandenburgischen Bauwagen auf einer wilden Wiese. Mal mit Freund*innen, mal allein, aber immer sehr erholsam und schön.
Beruflich hielt dieses Jahr auch ein paar spannende Dinge bereit, vor allem für Juliane. Seit April arbeitet sie in Teilzeit bei einer Berliner Kommunikationsagentur als Social-Media-Referentin und arbeitet nebenbei noch frei im selben Bereich sowie als Lektorin und Korrektorin und ist sehr happy damit. Außerdem ist sie seit Anfang des Jahres Teil des neu gegründeten Indie-Verlags Almost Publishing. Das erste Buch Dümpeln von Pola Schneemelcher erscheint im April. Bei Stefan war’s weniger aufregend – er arbeitete nach wie vor als zufriedener Hersteller in einem großen Publikumsverlag.
Es gibt also mal wieder keinen Grund zur Klage – 2023, du warst schon recht gut zu uns.