Anton Jäger: Hyperpolitik

Von Post zu Hyper: Anton Jäger untersucht in seinem Essay Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen die aktuelle starke Spaltung der Politik und ordnet sie historisch ein.

Jäger, Hyperpolitik

Eine der einflussreichsten Gegenwartsanalysen der Politikwissenschaften endet in der Ära der Postpolitik bzw. der Postdemokratie. Colin Crouch hat die Begriffe geprägt. Sie bezeichnen die Ära, in der die westlichen Demokratien durch eine Politik der Mitte geprägt sind, in der die Parteien kaum noch voneinander zu unterscheiden sind und politische Visionen hinter wissenschaftliche Erkenntnisse zurückgetreten sind. Politische Expert*innen verwalten den Status quo, ohne in eine bestimmte Richtung zu lenken. Sie schlingern vielmehr mal nach rechts, mal nach links, während die Bevölkerung unbeteiligt von der Couch aus zusieht.

Die Politik war damit praktisch unsichtbar, sie war abgekoppelt vom Leben der Menschen, wurde lediglich als Grundrauschen wahrgenommen, wenn überhaupt. Gesellschaftlich verlieren in dieser Zeit große Verbünde wie eben die Parteien, aber auch Gewerkschaften, Vereine und andere klassische Organisationen deutlich an Bedeutung, die Mitgliederzahlen schwinden, die Menschen vereinzeln in die Reckwitz’schen »Singularitäten«. Eine große Rolle spielt dabei das Internet, das auf ungezwungene Weise die Funktion der Organisationen ersetzt und Verbindungen Gleichgesinnter über den ganzen Globus einfach und auch anonym möglich macht.

In diese durchaus negativ individualisierte Welt krachen dann plötzlich weltweit Populist*innen, am sichtbarsten natürlich Donald Trump, und läuten ein neues politisches Zeitalter ein: die Hyperpolitik. Sie zeichnet sich durch radikale Ansätze aus, die auf die extrem kurzen Aufmerksamkeitsspannen von Social Media getrimmt sind und mit Elitenfeindlichkeit und Rassismus auf niederste Affekte setzen. Der emotionale Kurzschluss wird damit zum Prinzip einer Politik, der es nur noch um kurzfristige Effekte geht und wo langfristiges Denken – zumindest vorerst – keine Rolle spielt. Macht ist alles, Konsequenzen aus haarsträubenden politischen Entscheidungen tragen zwar die Menschen, nicht aber die Politiker*innen, die sie treffen.

Wie kann das sein? Es ist ein raffinierter Kniff des Populismus, die Identitätskarte zu spielen. Vereinzelte Menschen haben in der unendlichen Anzahl von Angeboten zur Identitätsbildung ständig mit dem eigenen Ich und dessen Selbstdefinition zu tun. Verspricht man ihnen nun, eine imaginierte ehemalige Großartigkeit wiederherzustellen, wie die meisten Populist*innen von Trumps MAGA-Republikanern über die Brexiteers bis hin zu Putins Großrussland-Fantasien es tun, die eine einfache, national-ethnisch definierte Identität suggeriert, sind viele ohne große Zweifel dabei. Sie gleichen dabei eher Fans als Parteimitgliedern und sehen über reale Fehltritte gern hinweg.

Hyperpolitik von Anton Jäger ist ein überaus inspirierender Essay, der zum Nachdenken über unsere politische Realität anregt. Kurz und knackig präsentiert kann er doch auch neben großen Werken wie Gekränkte Freiheit von Carolin Amlinger und Oliver Nachtwey bestehen und diese um eine andere Perspektive ergänzen.

Anton Jäger: Hyperpolitik. Extreme Politisierung ohne politische Folgen | Aus dem Englischen von Daniela Janser, Thomas Zimmermann und Heinrich Geiselberger | Suhrkamp | 136 Seiten | 16 Euro | Erschienen im Oktober 2023

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Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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