Şehnaz Dost: ruh

Die Liebe in Zeiten des Rassismus: Şehnaz Dost erzählt in ihrem Debütroman ruh von Alltagsrassismus, Familie und postmigrantischer Identität – aber auch von Liebe.

Şehnaz Dost: Ruh, Cover

Cemal kämpft, viel zu viele Kämpfe auf einmal. Als türkischstämmiger Student musste er überall doppelt so gut sein wie seine Mitstudierenden, musste glänzen, wo andere sich durchgemogelt haben. Das hat er geschafft. Doch selbst als festangestellter Lehrer muss er sich weiter jeden Tag beweisen. Damit hat er sich arrangiert, er ist stark.

Aber ist seine kleine Tochter Ekin auch schon so stark? Hier droht sich seine Bildungsbiographie zu wiederholen, was Cemal den Schlaf raubt. Seine Exfrau Gül ist hier zum Glück an seiner Seite, sie kämpfen Seite an Seite gegen die Vorurteile und die Ungleichbehandlung der Lehrer*innen. Und wenn er seine Tochter in den Arm nimmt, ist die Welt eh in Ordnung. Auch wenn seine Familie seit der Scheidung einfach so tut, als wäre diese nie geschehen.

Als wäre das alles noch nicht genug, findet Cemal in Georg das, was er seit der Scheidung kaum noch für möglich gehalten hatte: eine erfüllende, schöne Beziehung. Was an sich ja ziemlich gut klingt, macht für ihn aber nur noch eine neue Baustelle auf. Soll er sich Georg gegenüber komplett öffnen und sein inneres Bollwerk abbauen, das ihn vor Verletzungen schützt? Soll er ihn seiner Tochter vorstellen? Seiner Familie?

ruh zeigt mit Cemal einen Protagonisten, der viele zeitgenössische Themen in sich vereint. Seine Familie ist aus der Türkei nach Deutschland gekommen, die Zeit der Übersiedlung war überaus turbulent und gerade für Cemal auch traumatisch. Seine Scheidung kollidiert mit den konservativen Werten seiner Familie, seine Beziehung zu Georg ebenso. Und seine Herkunft prallt wiederum gegen die vielen Vorurteilen der Deutschen, gegen die er sich beständig zur Wehr setzen muss. Kein Wunder also, dass die vielen Konflikte ihn zutiefst erschüttern.

Diese Erschütterung zeigt sich im Roman in einem zweiten Strang, der neben der Gegenwartshandlung mit ihren gelegentlichen Rückblenden besteht. Dieser Strang führt in die weiter entfernte Vergangenheit der Familie, und zwar zu seiner Urgroßmutter Süveyde. In Träumen erscheint sie ihm immer wieder und nimmt ihn mit in Situationen, die ihm immer stärker zeigen, dass er große Teile seines Schicksals mit ihr teilt.

Mich hat ruh vor allem im Gegenwartsstrang mit den Rückblenden überzeugt. Der Roman zeigt die Kämpfe postmigrantischer Identität in Deutschland auf, ohne dabei den Eindruck zu erwecken, einen Punkt nach dem anderen abhaken zu müssen. Alles wirkt sehr organisch und dadurch überzeugend, was vom guten Sprachgefühl gestützt wird. Nicht ganz so gelungen finde ich den Traumstrang um Süveyde, da er mir für seine beschränkte Funktion im Roman zu viel Raum einnimmt und im Gegensatz zur Gegenwart einfach etwas abfällt. Aber das ist Jammern auf hohem Niveau bei einem so gelungenen Debüt.

Şehnaz Dost: ruh | Ecco | 272 Seiten | 24 Euro | Erschienen im Februar 2024

Kategorie Blog, Rezensionen
Autor

Ich bin im Niemandsland von NRW zwischen Tagebauten und Kraftwerken aufgewachsen, da gab es nur wenige Argumente gegen ausgiebiges Lesen, um der Tristesse zu entkommen. Dann ging es nach Aachen, später nach Köln, dann nach Göttingen und nun lebe ich in Berlin und arbeite als Buchhersteller. Nebenbei spiele ich noch in Bands, meine zweite Leidenschaft ist ganz klar die Musik! Oder doch Kochen und Essen? Schwer zu sagen.

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