Mit 2022 neigt sich das erste Noch-nicht-ganz-post-Pandemie-, aber gleichzeitig auch das erste Kriegsjahr dem Ende zu. Ist das jetzt besser? Wohl kaum. Trotzdem schauen wir heute mit euch zurück auf unsere ganz persönlichen Highlights des Jahres und sagen: »Tschüssi 2022!«
Mittlerweile zum dritten Mal in Folge können wir unseren Rückblick nicht anders starten als mit der kleinen, aber immer wichtigeren Formel: Es geht uns gut, und 2022 war – alles in allem – auch gut zu uns. Im Lichte von Pandemie, Krieg, Gesundheitssystems- und Arzneimittelkrise ist das alles andere als selbstverständlich. Gerade deshalb sei es so deutlich gesagt. Wir sind sehr dankbar dafür, dass es so ist, und hoffen, dass es für euch alle so oder zumindest so ähnlich war.
Vermutlich werden wir diesen ersten Absatz auch in den folgenden Jahren nur noch (hoffentlich) fröhlich variieren. Die akuten Krisen geben sich die Klinke in die Hand, die langfristige Klimakrise sitzt dahinter und heult wegen ständiger Missachtung. Selbst die Letzte Generation schafft es nicht, irgendeine Person mit ausreichender Macht davon zu überzeugen, dass tatsächlich mal ernsthaft gehandelt und nicht nur Symbolpolitik betrieben werden muss. Aber gut, das wisst ihr alles selbst, lassen wir es.
Damit leiten wir zur Nabelschau über und Fragen uns, was uns auf dem Blog dieses Jahr bewegt hat und uns besonders im Gedächtnis geblieben ist.
Unsere Lesehighlights 2022
Stefan könnte literarisch gesehen kaum zufriedener sein mit diesem Jahr. Eine ganze Reihe seiner Lieblingsautor*innen haben neue, meist formidable Romane vorgelegt, und dazu gab es auch noch tolle Debüts. Fangen wir mit Letzteren an. Da wäre zunächst Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron von Yade Yasemin Önder, das schon im Titel klar macht, dass es keine Kompromisse geben wird. Der Text ist ein Ritt auf der Rasierklinge literarischer Formen und Ansätze, ein Wagnis durch und durch, das auf ganzer Linie gewinnt. Auch thematisch kann die Auseinandersetzung mit Familienverhältnissen und Essstörungen überzeugen. Rudi Nuss’ Die Realität kommt hält das mit den Kompromissen genauso. Der Roman ist ein freakiger Trip in eine dystopische Landschaft, die ständig zwischen realem und virtuellem Raum glitcht. Über aller Düsternis liegt aber ein warmer Schimmer der Liebe, der in all seinen Formen Hoffnung machen kann.
Und dann die neuen Romane von Stefans literarischen Lieblingen. Hier startete 2022 gleich formidabel mit Dschinns von Fatma Aydemir. Der Familienroman thematisiert eine türkisch-deutsche Familie in der Krise. Im Rundumblick schafft er es, allen Personen dabei gerecht zu werden und einen ebenso bezeichnenden wie speziellen Generationenkonflikt aufzuzeigen. Gefolgt wurde Dschinns von ganz anderen Geistern. In Rot (Hunger) spürt Senthuran Varatharajah dem Kannibalen von Rothenburg nach. Ein Text, der in Sachen Intensität und Reflexionstiefe seinesgleichen sucht. Definitiv nichts für schwache Nerven (und Mägen). Und dann natürlich noch Joshua Groß mit Prana Extrem. Der Roman ist wieder unverwechselbar und doch ganz anders als die Texte von Groß bis dahin. Er verzichtet größtenteils auf absurde inhaltliche Elemente und verlegt die Trippigkeit ganz in die Personen, in Stil und Reflexion. Mit dem Roman kann man sich den Sommer ins Haus holen.
Beim Sachbuch waren 2022 die Verschwörungserzählungen nicht mehr so präsent. Allerdings stehen Rechtsradikalismus und Rechtspopulismus als Nutznießer und oft auch Urheber von Verschwörungsmythen diesmal im Mittelpunkt. Radikalisierter Konservatismus von Natascha Strobl rückt die sukzessive Hinwendung der konservativen Volksparteien in Europa und der Welt ins Radikale in den Fokus. Als Beispiel dient ihr vor allem Sebastian Kurz und seine ÖVP. Auch Nils C. Kumkar schaut in diese Richtung, wenn er in Alternative Fakten ein neues Instrument rechter Politik in den Blick nimmt. Wie genau sie es damit schaffen, den Diskurs immer weiter zu verrücken und Konsequenzen aus eigentlich unbestrittenen Fakten zu verhindern, seziert er genau.
Das betrifft vor allem den Klimawandel bzw. dessen Bekämpfung. Dazu legte das Kollektiv Zucker im Tank 2022 einen bemerkenswerten Sammelband vor: Glitzer im Kohlestaub. Ein ganz tiefer Einblick in die Arbeit von Klimacamps, erhellend, ungeschminkt, selbstkritisch – also alles, was es braucht, um weiterzukämpfen. Ebenfalls in ein kulturelles Kampfgebiet ging es für Lars Distelhorst mit Kulturelle Aneignung. Das Thema war medial 2022 ziemlich präsent, wir denken etwa an Winnetou oder auch das Dreadlock-Gate bei FFF. Es wurde aber natürlich größtenteils vollkommen unterirdisch präsentiert, sodass eine große, ernstzunehmende Abhandlung wirklich Not tat. Die ist mit diesem Text nun da, der sich ganz bescheiden zum Ziel setzt, überhaupt erstmal einen fundierten Diskurs zu eröffnen. Ziel erreicht!
Juliane hatte sich Ende 2021 als guten Vorsatz gesetzt, wieder mehr Rezensionen auf dem Blog zu schreiben. Nun ja, sie hat mal nachgezählt: Ganze drei Langrezensionen hat sie veröffentlicht und ein paar Kürzere in der Kategorie »Kurz angerissen«. Diese Bilanz ist nicht so dolle, aber es geht ja nicht immer um Quantität im Leben. Gelesen hat sie nämlich trotzdem viel und die Quali war meistens high.
Begonnen hat sie ihr Lesejahr 2022 mit Mein kleines Prachttier von Marieke Lucas Rijneveld – eine anspruchsvolle Lektüre, die ihr den*die Autor*in noch näher ans Herz wachsen ließ. Das ländliche Setting mit all seinen Grausamkeiten spricht sie einfach immer wieder aufs Neue an. Wo wir schon mal bei diesen beiden Topics sind, lässt sich direkt ein weiteres Jahreshighlight hier nochmal wärmstens empfehlen. Lügen über meine Mutter von Daniela Dröscher stand nicht ohne Grund auf der Shortlist für den Deutschen Buchpreis 2022. Ihr Roman hat Juliane gefordert und sehr beeindruckt. Noch nie zuvor wurden so eindrücklich die 80er-Jahre im ländlichen Raum der BRD voller Tristesse, Bodyshaming und Klassismus beschrieben wie in diesem autofiktionalen Roman.
Die Autofiktion bzw. Memoirs begleiten Juliane schon seit Längerem als zunehmend favorisiertes Genre, weshalb auch 2022 einige davon auf ihrer Leseliste standen. Neben Ein Mann seiner Klasse von Christian Baron hat sich Nullerjahre von Hendrik Bolz als ein wahres Highlight entpuppt. Mit der Geschichte des 1988 in Stralsund geborenen und dort auch aufgewachsenen Rappers konnte sich Juliane auf mehreren Ebenen identifizieren. Hier werden eine Kindheit und Jugend im Osten des frisch wiedervereinigten Deutschland beschrieben, die sehr gut abbilden, dass die Landschaften in der Realität gar nicht mal so »blühend« waren wie einst versprochen.
Außerdem gefiel ihr der schmale Band Und was ich dir noch erzählen wollte von Dorothy Gallagher ausgesprochen gut. Die Autorin schreibt darin für ihren verstorbenen Mann und erzählt ihm eben alles, was er nicht mehr miterleben konnte. Sehr berührend, und es hat Juliane an eines ihrer Lieblingsbücher von Joan Didion, Das Jahr magischen Denkens, erinnert – immer ein gutes Zeichen.
Apropos schmales Bändchen: Wir durften in diesem Jahr den WORTMELDUNGEN-Literaturpreis auf unserem Blog begleiten und sind immer noch sehr happy über diese Kooperation. Gewonnen hat Volha Hapeyeva mit ihrem Essay Die Verteidigung der Poesie in Zeiten dauernden Exils, der im Anschluss im Verbrecher Verlag als Publikation veröffentlicht wurde. Ein wirklich kraftvoller Text, der diesen Preis mehr als verdient hat.
Julianes absolutes Sachbuchhighlight 2022 (wenn nicht sogar ever) ist endlich. Über Trauer reden von Susann Brückner und Caroline Kraft – ein allumfassendes Debattenbuch zu den Themen Tod und Trauer. Sollte in keiner Sachbuchbibliothek fehlen. Und dann hat Juliane sich tatsächlich einer neuen literarischen Form geöffnet, der Graphic Novel. Die beiden Bände der schwedischen Autorin Liv Strömquist, Der Ursprung der Welt und Der Ursprung der Liebe, sind nicht nur durch und durch feministisch und klug, sondern auch wahnsinnig lustig. Im März 2023 erscheint ein weiterer Band von ihr im avant Verlag – ist direkt auf den Merkzettel gewandert.
Und sonst so?
Ansonsten hatten wir auch ein sehr schönes Jahr mit tollen Begegnungen, wunderbaren Ereignissen und immer weniger pandemiebedingten Einschränkungen (na gut, außer vielleicht die paar Wochen im Sommer, als wir beide mit Covid flach lagen). Eine Leipziger Buchmesse gab es auch in diesem Jahr nicht, dafür fand die in Frankfurt wieder statt, zwar mit weniger Besuchern als sonst, aber es erinnerte sehr an die Jahre vor der Pandemie, was ganz schön war.
Ganz am Anfang stand aber erstmal die Umzug in eine neue Wohnung. Wahnsinn, eine schöne und auch noch bezahlbare Wohnung in Berlin! Wie ein Lottogewinn, in den wir immer noch ganz verliebt sind. Auch urlaubstechnisch konnten wir uns nicht beschweren. Es ging für uns zum ersten Mal nach New York, eine der schönsten Reisen, die wir bisher als Paar unternommen haben. Dann waren wir noch auf eine Hochzeit in der Nähe von Bath in Südengland eingeladen – that was lovely, too. Und last, but not least haben wir zwei wunderbare Wochen in der Holsteinischen Schweiz auf Gut Deutsch-Nienhof zwischen Ponys und Puten verbracht. Mal sehen, was im nächsten Jahr kommt.
Auch beruflich ging es hoch her. Stefan hat zur Mitte des Jahres seinen Job gewechselt und ist nun nach Abgabe der Leitungsposition viel entspannter als vorher, und der Verlag, in dem Juliane bisher gearbeitet hat, wurde zu Ende des Jahres eingestellt. Nicht so schön, aber wer weiß, was 2023 für sie bereithält – stay tuned!
Es gibt also mal wieder keinen Grund zur Klage – 2022, du warst schon recht gut zu uns.